Spitzklingenansichten

Begonnen von thovalo, 23. November 2015, 20:49:58

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thovalo

    :-)

Heute habe ich für einen anderen Anlass Bilder von einigen auf einem großen Gesamtfundgelände am rechten Niederrhein aufgelesenen Spitzklingen "geschossen" und möchte diese auch hier zeigen.


Die Formen und Größen sind variabel. Vollständig aufgelesene Exemplare weisen zumeist Längen zwischen 8 bis 11 cm auf. Grundlegend für die Formate war die Frage der Verfügbarkeit von Klingengrundformen. Je größer die verfügbaren Klingengrundformen waren, umso größer konnten die Spitzklingen ausgeführt werden. Da die lang-schmalen Artefakte über einen verhältnismäßig geringen Durchmesser verfügten fielen und fallen sie oft den gravierenden Einflüssen der motorisierten Landwirtschaft zum Opfer. Daher gelingen ab und an bruchfrische Anpassungen.

Da sie am gesamten Niederrhein, insbesondere in Fundinventaren der Michelsberger Kultur vertreten sind, liegen an solchen Standorten oft  auch sehr zahlreiche Distalfragmente von Spitzklingen vor. Die Spitzen brachen wohl auch schon in der Zeit des Gebrauchs der Klingengerätschaften häufiger ab.


Auf dem zweiten Bild rechts handelt es sich um ein Fragment (!) von immerhin noch 12.3 cm Länge. Der zweite Beleg von rechts ist 13 cm lang und bilateral annähernd parallel fein und steil retuschiert. Das ist eine Besonderheit. Der vierte Beleg von rechts fand sich vor wenigen Monaten mitten in einer Traktorspur. Die Fundbelege geben die Vielfalt möglicher Ausprägungen wider

lG Thomas
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#1


Eine der bislang größten Klingen vom Fundgelände zeigt frische Brüche. An ein Medialfragment konnte nach zwei Jahren die Proximalpartie angesetzt werden. Mit 14 cm Länge ist auch dieser wieder zusammen gesetzte Fundbeleg "nur" ein Fragment. Es fehlt die Distalpartie und die kann noch gut 3 cm Länge zusätzlich bringen.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Im Gegensatz dazu fehlt an der dem Klingenfragment zur Seite gestellten Distalpartie einer Spitzklinge von 12.3 cm von derselben Feldflur die Proximalpartie. Vollständig käme auch dieses Exemplar auf eine Gesamtlänge von 16-17 cm.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#3


Zwei annähernd gleich große Exemplare in unterschiedlicher Ausführung.
Das breitere Exemplar aus einer im Vergleich flacheren Klingengrundform.


Der dritte Beleg rechts ist aus einer Klinge mit einem ungewöhnlichen Schlagunfall gearbeitet worden.

Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Eine Besonderheit stellt diese Spitzklinge an einer Klingengrundform mit einer "fracture en nacelle" dar. Es handelt sich um einen nur selten im lithischen Fundgut an einem Artefakt zu beobachtenden Schlagunfall, bei dem während des Trennungsschlages ein so genanntes "segment en nacelle" aus der Ventralfläche heraus gesprungen ist.

Trotz dieses Aussprungs erschien dem Bearbeiter die Klingengrundform zur Nutzung als Spitzklinge geeignet, wie die ausgeführte Retuschierung deutlich macht.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#5


Eine weitere Spitzklinge  ......
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#7


Für ein derart komplex und fein umlaufend retuschiertes und 12.3 cm langes Exemplar eines Klingengerätes benötige man eine mindestens
14 cm lange Silexklinge!

Auch diese Klinge wurde durch die Landwirtschaft zerbrochen.
Die beiden Hälften fanden sich im Abstand von drei Jahren..


Alle Klingen bestehen aus Maasfeuerstein vom Rijckholttyp.


Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Steinkopf

Danke Thomas!

Das ist eine schöne Übersicht.

LG

Jan

StoneMan

Chapeau!

Außergewöhnlich schöne SPITZEN-Ansichten.

:Danke2:

Gruß

Jürgen
Was könnte wichtiger sein als das Wissen? fragt der Verstand.
Das Gefühl und mit dem Herzen zu sehen, antwortet die Seele.
Antoine de Saint-Exupéry

Merle2

Hallo Thomas, :winke:

ganz tolle Funde :smoke:, auch das du mehrere zusammensetzen konntest ist echt stark.
Auf Bild 3113 wirkt die Linke der beiden Spitzklingen abgesetzt, bzw. geschultert, ich weiß nicht ob sprachlich klar wird was ich sagen möchte :kopfkratz:, Ist das Absicht? und wenn ja diente es einer Schäftung?
herzliche Grüße aus dem N8dienst :zwinker:
MArc

luci21

Tolle Ansichten, danke fürs zeigen ! :staun: :super:
ignoramus et ignorabimus

thovalo

#12
Zitat von: Merle2 in 24. November 2015, 01:02:28
Hallo Thomas, :winke:

ganz tolle Funde :smoke:, auch das du mehrere zusammensetzen konntest ist echt stark.
Auf Bild 3113 wirkt die Linke der beiden Spitzklingen abgesetzt, bzw. geschultert, ich weiß nicht ob sprachlich klar wird was ich sagen möchte :kopfkratz:, Ist das Absicht? und wenn ja diente es einer Schäftung?
herzliche Grüße aus dem N8dienst :zwinker:
MArc



Die Zusammensetzungen gelingen in Abständen über mehrere Jahre hinweg. Voraussetzung dafür ist, dass diese großen Objekte vollständig und bis zu ihrer Zerstörung durch die moderne Landwirtschaft geschützt in ihren Befunden lagen. Da für die die MK bislang kaum Siedlungen bekannt sind, sondern insbesondere die großen Erdwerke, ist dies eine bemerkenswerte Gesamtsituation.

Einer der Fundbereiche überliefert ein vom Artefaktaufkommen kulturell ungewöhnlich rein erscheinendes Oberflächenfundvorkommen von Artefakten der MK. Es handelt sich zu einem sehr hohen Anteil um Klingengerätschaften die zumeist frisch gebrochen sind. Es handelt sich ausnahmslos um Klingen aus Feuerstein vom Rijckholttyp. Diese sind sehr oft zu Spitzklingen aber auch zu Klingenkratzern ausgeformt. Im Gerätespektrum finden sich viele Gebrauchszustände. Von gerade mit der Retuschierung begonnenen Stücken bis zu weiter abgearbeiteten und nachretuschierten Artefakten. Kein Stück erscheint "final" abgearbeitet und damit ein Abfallprodukt oder Reststück zu sein.

Hinzu kommen Projektile und bislang stets modern beschädigte Beilklingen. Alle Objekte aus Rijckholtfeuerstein. Aus Felsgesteinen finden sich Trümmer von Mahlsteinen, Schleifwannen, Unterlagen aus Steinen auf denen, den Schlagmarken zufolge, gearbeitet worden ist und Schlagsteine. Der Fundplatz legt an einer "Feuersteinstrasse" über die die Verteilung von Feuerstein aus der Maasregion in Richtung der Mittelgebirge nach Osten verlief. Ein im Gegenzug bedeutendes Austauschprodukt kann das Salz aus der Soester Börde gewesen sein. Der Verlauf des Austauschsystems entlang dieser Wegverbindung verläuft durch die nördliche Grenzregion der Michelsberger Kultur gegenüber den kulturellen Traditionsgebieten der Trichterbecherkultur.


Die linke Klinge auf Bild 3113 hat zwei seitliche Beschädigungen. Diese liegen sich deutlich versetzt gegenüber. Das sind am ehesten nicht intentionelle Beschädigungen. Vielleicht sind die Kanten in diesen Bereichen auf Steine gedrückt worden. Als sich die Klinge vor nicht allzu langer Zeit fand lag sie in einer Traktorspur. Sie ist wohl beim Gemüseernten noch mit hoch gekommen. Der Platz war zuvor intensiv abgesammelt worden. Diese beiden Klingen stammen von einem Fundkomplex der MK auf dem insbesondere und in beeindruckenden Umfang hoch qualitätsvoller dunkler Feuerstein vom Rijckholttyp vorkommt. Dort lag ein Werkplatz, von dem auch Kernscheiben, Kernreste und Schlagsteine stammen.

Anders das Exemplar rechts daneben. Da liegen im Bereich des Proximalendes zwei unmittelbar gegenständige Negative. Das Proximalende ist zungenförmig rundlich ausgeprägt. Diese Marken können intentionelle Kerbungen angelegt sein, um eine Sehnenwicklung an einer Handhabe aufzunehmen. So wie an der noch viel weiter abgearbeiteten Dolchklingen des Ötzi. Die beiden deutlich feiner ausgeprägten Negative haben keine zusätzlichen Aussprünge auf der Ventralfläche ausgelöst. Das steht im Gegensatz zu den kräftigen ungleichmäßigen Aussprüngen des daneben liegenden Vergleichsstücks..


lG Thomas   :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Nanoflitter

Was macht man eigentlich mit solchen Groß-Klingen?
Stechen: unwahrscheinlich, zu stumpf
Schneiden: geht auch nicht, zu steile Retuschen dafür
Kratzen: dafür sind Kratzer da...
Kann mir nur einen schabenden Gebrauch beim entrinden oder ablösen von Fleisch von Knochen vorstellen, ähnlich einer Ziehklinge.
Gruss...

thovalo

#14


Das waren Multifunktionsobjekte mit denen man Stechen, Schaben, Schneiden, Bohren und ggf. auch Zustechen konnte.

Es können Ausstattungsstücke der Männer einer Siedlung gewesen sein die die Klingen, wie das Fundensemble des "Ötzi" zeigt, geschäftet in einem Futteral am Gürtel mit sich führten.

Denkt man sich noch den fehlenden organischen Griff und ein verziertes Futteral hinzu, dann waren das sicher auch repräsentative Ausstattungsstück die zur persönlichen Ausstattung und Repräsentation gehört haben können, wobei die Genderfrage mangels überlieferter Grabausstattungen offen bleibt. Günstiger sind die Überlieferungsbedingungen in Mooren und in den Pfahlbausiedlungen des Südens aus denen noch organisch geschäftete Dolchklingen und Futterale mit überliefert sind.

Das können, so gedacht, sowohl funktionale wie auch repräsentative Objekte gewesen sein, denn so großformatige Klingen waren in den meisten Regionen Ausnahmeobjekte. Der Ort hier liegt etwa 90 km Luftlinie vom Feuersteinvorkommen entfernt. Die real zu bewältigende Strecke, die ohne feste Strassen, Ortsnamenschilder und vor Allem ohne Rad und Wagen zu bewältigen war, wird mindestens um die 130 km um Moore und Sümpfen herum, über Bäche und Flüsse hinweg betragen haben. Teilstrecken könnten in Einbäumen entlang der Wasserrouten bewältigt worden sein, aber es mussten auch Landstrecken überwunden werden. Einen Einbaum schleppte man ja mit Sicherheit nicht auch noch mit.

Von daher sind Materialexpeditionen über Land anzunehmen im Gegensatz zum Austausch "down-the-line" von Ort zu Ort.

Die "down-the-line-These" trifft für den Ort nicht zu, denn hier traf Feuerstein in bester Qualität, in größten Formaten und in ungewöhnlich umfangreichen Mengen ein. So erscheint der Platz als überregional wirksamer Zentralort im nördlichen Verbreitungsgebiet der Michelsberger Kultur. Die Annahme eines Zentralortes unterstützt der Fundbeleg der sekundär erneut zu einer Beilklinge überarbeiteten Schneidenpartie einer Beilklinge aus Jadeit vom Monte Beigua bei Genua, inmitten einer extrem dichten Konzentration vollkommen verbrannter Beil- und Dechselklingen aus Feuerstein.

Das der Platz über viele Generationen besiedelt und vielleicht auch verteidigt worden ist, dokumentieren hunderte Pfeilspitzen und Pfeilschneiden unterschiedlicher Zeitstellung.

Die Unmengen von Beilklingenbelegen aus Feuerstein und Felsgestein dokumentieren sehr wahrscheinlich den Hausbau und so nahe am Fluss vielleicht auch den Bau von Einbäumen, die in der Auenlandschaft am ehesten zum Fischfang eingesetzt werden konnten und zum Übersetzen über den Fluss. Was für die südlichen Seeufersiedlungen angenommen wird passt genauso gut für eine Fluss- und Auenlandschaft.


lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Nanoflitter

Danke für die tolle Ausführung! Gruss... :super:

Merle2

HAllo,

lieben Dank für die ausführlich Antwort :Danke2:.
Von dem Fundgelände das du erwähnst/ erschließt, geht Feuersteinhandel Richtung Osten aus. Ist es auch vorstellbar, das zum einen, nicht nut der Rohstoff Feuerstein, sondern auch "industriell" gefertigte Grundformen gehandelt wurden, als Beispiel, das fertig in Form gebrachte Steinbeil das der Kunde selbst noch ausschleift, wäre logistisch ja sinnvoll, da Transportkapazitäten besser genutzt werden konnten, zum andern wollte ich dich fragen ob nicht auch solche "Zentren" einen  überregional normativen und natürlich innovativen Einfluss ausübten, der sich anhand verbreiteter Artefakte belegen lässt. Hier dachte ich auch an Effekte wie in der heutigen Modewelt:
sagt der eine Neolithiker zum anderen:" Hast du schon gehört, die vom rechten Niederrhein haben jetzt ganz klasse Spitzklingen... die brauche ich auch...

Liebe Grüße und nochmal vielen Dank
Marc

thovalo

#17


Die großen Klingen waren sicher Arbeiten von Spezialisten an Orten an denen die dafür notwendigen sehr großformatigen Blöcke von Feuerstein vorhanden waren. Dazu gehört Rijckholt. Die großformatigen Klingen sind als Grundformen, wie man annimmt, in "Bündeln", weithin verbreitet worden.

Beilklingen und Dechselklingen aus Feuerstein wurden zumindest weit überwiegend als Vorarbeiten ausgetauscht die später geschliffen wurden.

Für den Platz wird bislang angenommen, dass die Menschen tatsächlich nach Rijckholt gereist sind und sich dann dort bei der Zurichtung von Beilen und Klingen in großen Umfang angefallene und/oder gezielt hergestellte Abschläge mitgenommen haben. So würden sich die an den Ort eingetragenen vielen nicht genutzten Abschläge erklären. zu diesen Abschlägen gehören auch zwei gelungene Aufeinanderpassungen. Es ist schon ein außerordentlicher Zufall zwei nicht bearbeitete Abschläge auf einem Platz aufzulesen an dem diese Grundformen der Artefaktproduktion NICHT geschlagen worden sind.

Noch ungewöhnlicher ist die Fundbeobachtung von zwei aufeinander anpassenden Kratzern. Vorausgesetzt die Abschläge seien nicht am Fundort geschlagen worden bedeutete diese Beobachtung, dass diese Stücke aus Hellgrau-Belgischen Feuerstein in BELGIEN als Abschläge angefallen, hier her transportiert, dann an ein und derselben Stelle als Kratzer zugerichtet und dann auch noch nahe beieinander auf der Fundstelle verblieben und Jahrtausende später wieder aufgelesen worden sind. ZWEI solcher Fundbeobachtungen in Material aus Oberflächenbegehungen auf einem Fundgelände, von einer solchen äußerst geringen Wahrscheinlichkeit sind auch sechs Richtige im Lotto nicht weit entfernt.

Die am Ort selber hergestellten Beilklingen aus Schluffstein finden sich, von diesem Zentrum ausgehend, auch im weiteren Umland. Der Ort hatte eine eigenständige Produktion von Felsgesteinbeilklingen und gab anscheinend auch solche Stücke in die umliegende Landschaft ab.

Es wird eine eigene Dynamik gegeben haben die durch Kommunikation und persönliche Kontakte und durch eine entsprechende allgemein getragene Organisation des Transportes in Gang gehalten worden ist. Wie genau das vonstatten gegangen ist, lässt sich kaum näher fassen.

Verständigten sich alle Beteiligten in einer allgemein verständlichen Sprache? Durchquerten einige extra dafür abgestellte Personen der Gemeinschaft unangefochten die Territorien der Menschen auf dem Weg zu den Rohgesteinvorkommen? Hatte jeder der anreiste einen ungehinderten Zugang zu den Rohgesteinquellen? Es gab ja keine Telefonkontakte sich vorher anzukündigen! Woher kannte Wer den Weg? Waren das besondere Familien und deren Angehörige die diese Aufgaben wahr nahmen? Vermutlich waren die Menschen den saisionalen Bedingungen unterworfen. So dürfte der Abbau in Rijckholt zumindest über den Winter geruht haben.


Es ist immer noch viel zu wenig bekannt  :friede:



lG Thomas   :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Pipin

Hallo Thomas,

ein sehr interessanter Beitrag. Und die Spitzklingen als " Universalwerkzeug" zu bezeichnen ist bei ihrer Form und Stärke absolut nachvollziehbar. Mir kommt bei den Spitzklinge immer gleich die bohrende Funktion in den Sinn, aufgrund der Dicke des Materials.

Danke für die ausführlichen Berichte dazu

Gruß Christian

Steinkopf

Hallo Thomas,

eine Spitzklinge aus Rijkolt-Silex wurde bei Alleshausen am Federsee geborgen.

Es ist schon spannend, wenn die Verbreitung eines Rohstoffes so viel über die
'Handelsmöglichkeiten' offenbart.

Schöne Grüße

Jan



StoneMan

Was könnte wichtiger sein als das Wissen? fragt der Verstand.
Das Gefühl und mit dem Herzen zu sehen, antwortet die Seele.
Antoine de Saint-Exupéry

thovalo

#21
Zitat von: Steinkopf in 25. November 2015, 12:31:48
Hallo Thomas,

eine Spitzklinge aus Rijkolt-Silex wurde bei Alleshausen am Federsee geborgen.

Es ist schon spannend, wenn die Verbreitung eines Rohstoffes so viel über die
'Handelsmöglichkeiten' offenbart.

Schöne Grüße

Jan



Der Feuerstein von Rijckholt der in bestimmten Lagen sehr großformatige homogen gebildete Knollen und Schollen ausgebildet hatte, eignete sich besonders zur Herstellung großformatigen Klingengrundformen. In der ersten Hälfte des 5. und im 4. Jahrtausend gab es dort aber auch die notwendigen Spezialisten die über das ebenso dringend notwendige technologische und praktische Wissen solche Großklingen herzustellen verfügt haben und die ihr Können weiter tradieren konnten. Die Großklingen wurden anscheinend in Abbauserien hergestellt, wie Aufeinanderpassungen verborgener Stücke zeigen. Kürzere Klingen herzustellen gehörte wohl eher noch zu den allgemeinen praktischen Erfahrungen und Fähigkeiten.

Je weiter von der Materialquelle entfernt umso seltener werden die Belege der vollständig erhaltenen großformatigen Klingen aus "westischen" Feuerstein und je weiter entfernt umso eher sind die Großklingen fragmentiert und die Teilstücke wiederum zu
kleinformatigeren Gerätschaften umgearbeitet worden.

Je knapper die Ressource Silex wurde umso intensiver erfolgte die Aufarbeitung des Materials. Vor diesem Hintergrund beeindruckte eine großformatige "Spitzklinge" sicher auch als "Prestigeobjekt".

Zeitlich nachfolgend kamen dann die Großklingen des Feuersteins von Grand-Pressigny in den Austausch. Bislang kam die französische Silexvarietät auf dem Platz am Rhein nicht mit vor, obschon hier noch weiterhin eine dichte und langfristige Besiedlungsfolge bestanden hat.

Der Rheinübergang gehörte im späten Neolithikum offensichtlich nicht zu den Stationen in die Distributionskette der französischen "Großklingenindustrie" von Grand-Pressigny. Er lag hunderte Kilometer von dieser Produktion entfernt. Auch der Feuerstein vom Typ Romigny-Lhéry, der noch in der MK in geringen Umfang die linksrheinischen Lössgebiete erreicht hat, fehlt hier. Den Ort erreichte dem Fundaufkommen zufolge jedoch Hornstein vom Typ St. Mihiel in Form von Beilklingen.

Der Schwerpunkt der Materialbezüge der Flußsiedlung lag im späten Neolithikum eindeutig in der Belgischen Maasregion. Typologisch erklärt  sich über diese Beziehungen auch die hier intensiv bestandene Tradition der Verwendung von Pfeilschneiden, die sich am Niederrhein sonst Nirgendwo vergleichbar nachhaltig fassen lässt.

Da die Leute auch wussten wie man an das nachgefragte Material aus Belgien und den Niederlanden kam und offenbar keine sprachliche und territoriale Probleme hatten scheint es eine dauerhafte intensive Beziehung zur Maasregion gegeben zu haben ........ vielleicht auch durch direkte Zuwanderung.


Leider sind bislang keine Grabungen vorgesehen und daher fehlt es an ausreichend klar fassbaren keramischen Hinterlassenschaften.
Die älteste datierbare neolithische Keramik gehört in die "Bischheimer" Kultur, der Vorgängerkultur der "Michelsberger", die aus dem
Pariser Becken heraus entlang des Laufes der Maas den Niederrhein erreicht haben wird.


Vielleicht bestanden über Jahrhunderte hinweg wechselseitig direkte Kontakte und geregelte Austauschbeziehungen.


Da muss noch viel geforscht werden!



lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo


    :-)


Da ich Urlaub und Zeit habe, habe ich mir gerade mal die hoch detaillierte Dokumentation und Auflistung der Funde zu den für die "Michelsberger Kultur" namengebenden Grabungen auf dem Michelsberg bei Untergrombach vorgenommen, Grubeninventar für Grubeninventar.


Es wird dabei ein krasses Missverhältnis zwischen massenhaft ergrabener Keramik und kam vorhandenen Silexgerätschaften deutlich:

KEIN Nachweis von Maasfeuerstein, KEINE Großformen aus Silices, überhaupt scheint die MK in ihrer südlichen Ausprägung nur wenige Artefakte aus Silices verwendet zu haben. Es sind auch kaum Pfeilspitzen dokumentiert worden. Das Mitnehmen von solchen Artefakten bei einer möglichen Abwanderung kann dieses aproportionale Verhältnis alleine nicht erklären.

Das Aufkommen von Artefakten aus Felsgesteinen (Beilklingen, Mahlsteine, würfelförmige und teils beschliffene Gesteinstücke, sind dem gegenüber in vergleichbaren Anteilen vorhanden).

Eindeutig unterscheidet sich dem gegenüber die nördliche Ausprägung der Michelsberger Kultur insbesondere durch ihren Reichtum an Silexartefakten aus Feuerstein der Maasregion und deren besonders großen Formaten.


Mit diesem Thema kann man sicher eine umfangreiche Doktorarbeit bestreiten.  


lG Thomas  :winke:



Sorry, ist viel Text geworden, da sind die Pferde mit mir durch gegangen!   :reiter:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Steinkopf

Moin Thomas,

es ist klasse, dass Du Zeit und Mühe investierst, um diesen interessanten Typ 'Spitzklinge' in seinem
bisher bekannten Kontext so vorzustellen!

Du hast ja auch einen respektablen Teil Deiner Lebenszeit mit der Betreuung eines gesegneten Fundareals zugebracht.
Die angesprochenen großen Klingen (auch als Dolche mit Griff gefunden) aus dem Silex von Le Grand Pressigny
wurden auch bei ausgegrabenen Bestattungen gefunden.
Nach meiner Kenntnis sind in Deutschland die nördlichsten Funde bei Aurich in Ostfriesland ausgegraben worden.

Bleib dran!

LG
Jan


thovalo




Yessssss   :super:


Genug davon ......  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

hargo

#25
Hallo,

falls noch Fragen offen geblieben sind, sei hiermit auf den Begleitband zur Ausstellung im Badischen Landesmuseum Karlsruhe 2010 verwiesen ; )

Jungsteinzeit im Umbruch
Die >>Michelsberger Kultur<< und Mitteleuropa vor 6000 Jahren

Erschienen im Primus Verlag.

Die momentan 39,90 Euronen beim ZVAB wären es mir wert!
http://www.zvab.com/servlet/SearchResults?sts=t&tn=Jungsteinzeit+im+Umbruch

mfg