Eine "MIKROgravettespitze" vom rechten Niederrhein (NRW)

Begonnen von thovalo, 17. September 2017, 15:35:32

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thovalo

  
 

      :-)     Hallo zusammen!


Gestern habe ich den südlichen und nördlichen Bereich eines seit 2003 bekannten paläolithischen Fundplatzes am rechten Niederrhein weiter begangen und dabei gegen Ende der vier sehr anstrengenden Stunden im nördlichen Bereich der Fundverbreitung diese rückenretuschierte kleine feine Spitze entdeckt.

Das Artefakt lag vollständig freigelegt in die Oberfläche des Bodens eingelagert mit der Ventralfläche nach Oben gerichtet. Dadurch waren auch schon die steil retuschierten Konturen sichtbar.

Daher war es auch klar das es sich weder um einen Mikrolithen handeln konnte noch um eine spätpaläolithische Rückenspitze.

Es handelt sich in allen typologischen und technologischen Merkmalen um eine hervorragend gearbeitete und herausragend gut erhaltene MIKROgravettespitze (Länge 3.7 cm; es gibt neben den Groß- und Mikroformen auch noch kleinformatigere NANOgravettespitzen: Übersicht Floss S. 402 und ausführlich dann S. 489 ff mit entsprechend vielen Abbildung und Beschreibung der Varianten)

Das Gestern aufgelesene Exemplar besteht aus weißlich patinierten "baltischen" Feuerstein und ist entlang der rechten Langseite hochfein und durchgehend von der Basis bis zur Spitze hin retuschiert. Die Retuschen umlaufen zudem die Proximalpartie des Artefakts und reichen auf der Gegenseite noch bis zur Mitte der Grundform. Dort verlief dann die scharfkantige Schneide der verwendeten Grundform weiter zur Spitze hin.

Der gegenüber Druck emfpindliche scharfkantige Bereich der verwendeten Grundform scheint, durch welchen Einfluss auch immer, von Dorsal nach Ventral ein- oder abgedrückt worden zu sein.


Durch die beidseitig umlaufende Retuschierung ist das klassische Belegexemplar einer "MIKROgravettespitze" noch eindrucksvoller ausgeprägt als in der Standardversion mit nur einseitiger Retuschierung.


Die Datierung der mittelgroßen "Mikrogravettespitzen" und der ganz kleinen Gravettespitzen "Nanogravettespitzen umfasst den Zeitraum zwischen 27.000 und 23.500 vor heute.



Die Vergleichsbilder neben dem Fundbeleg im Floss zeigen drei Exemplare des gleichen Typs mit der gleichen beidseitig umlaufenden Retuschierung.


Dieser Fundbeleg verändert doch noch einmal sehr nachhaltig den Blick auf den Fundplatz, dessen Fundinventar und der chronologischen und kulturellen Einordnung. Tatsächlich sind aus dem mittleren Jungpaläolithikum auch Rückenspitzen überliefert die ganz der Machart der Federmesser entsprechen. Ein solcher Fundbeleg liegt auch in der Aufsammlung mit vor und müsste in diesem Zusammenhang nochmal neu betrachtet werden. Von einer Stielspitze unterscheidet sich die neu aufgelesene Spitze eindeutig durch die vollständige steile   Retuschierung der rechten Laterale zur Spitze hin.

Gegebenenfalls gab es auch zwei verschieden datierende paläolithische Aufenthalte an diesem Platz.


lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#1


  :-)


Der grazile Fundbeleg in verschiedenen An- und Übersichten!   :glotz: Die Steinzeitbibel (Floss) sagt noch etwas zu einer ventralen Retuschierung (Floss, S.491) "Chrakteristisch ist hier eine Spitze oder ein SpitzBOGEN, was durch die Modifikation der Rückenretusche gegenüber liegenden Seite, in Form feiner und flächiger Retusche auf der Dorsal- oder Ventralfläche, erreicht wird". Ob das hier auch für die konkave Buchtung gilt die die eigentlich breiter werdende Grundform dann zur Spitze hin führt?

Die nächst gelegenen rechtsrheinischen Fundbelege des Gravettien liegen aus dem Höhlensediment der Feldhofer Grotte aus dem Neandertal bei Hochdahl im Kreis Mettmann vor.


Die hier entdeckte Freilandstation liegt in einer Flussaue und nur vier bis fünf Stunden Fussmarsch vom Neandertal entfernt. Gemütlich den Lauf der Düssel entlang und dann rechts abbiegen  :zwinker:


lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Nanoflitter

Sehr bemerkenswert, hat so viel Zeit unbeschadet überstanden, ein Wunder, gratuliere. Vielleicht find ich ja mal so eine NANOgravettespitze, dann benenne ich mich um. :-D Gruss...

Furchenhäschen

Servus Thomas,
mein Glückwunsch zum tollen Fund!  :super:
Viel gibt's dazu ja nicht mehr zu sagen, hast bereits alles trefflich gesagt! :super:

Grüße
Peter  :winke:
und weiter so!

RockandRole

Servus Großer,

ich glaube dass sind die Momente warum wir so etwas machen  :-)

Liebe Grüße Daniel
gefährliches Drittelwissen

thovalo

Zitat von: RockandRole in 17. September 2017, 17:35:59
Servus Großer,

ich glaube dass sind die Momente warum wir so etwas machen  :-)

Liebe Grüße Daniel



AUCH solche!  :super:


Sonst ist der Fundalltag weniger spektatkulär. Neben mir liegen die Beifunde zur Spitze. Da schätze ich jeden Fitzel, auch wenn die Stücke nicht so spannend erscheinen. In der Vielfalt des Ganzen und der Überlieferung der gesammelten Überreste des lange vergangenen Alltags liegt das eigentliche Ergebnis. :zwinker:

Ich hab das Teil aus meinen 2 Metern Höhe gesehen, mich auf den feuchten Acker daneben gesetzt und genau betrachtet bevor ich es aufgehoben habe.
Das ist das rein zufällige Ergebnis intensiver "Fleissarbeit", das kennst Du, kennt Peter, das kennen Viele hier!


Dir glG Thomas  :winke:


Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Furchenhäschen

Zitat von: thovalo in 17. September 2017, 18:30:09
AUCH solche!  :super:
Ich hab das Teil aus meinen 2 Metern Höhe gesehen, mich auf den feuchten Acker daneben gesetzt und genau betrachtet bevor ich es aufgehoben habe.
Das ist das rein zufällige Ergebnis intensiver "Fleissarbeit", das kennst Du, kennt Peter, das kennen Viele hier!

Dir glG Thomas  :winke:
so ist es Thomas,
habe eben einen Fpl. von gestern ausgewertet, 124 Silices, davon 14 Klingen, 2 diskoide Kerne, 10 Kerne, 4 Mikrospitzen, 1 Bohrer und eine Steinplatte mit Schleifspuren.
Der Rest, also 92 Stck Abfälle aus der Werkzeugherstellung.

Ein hartes Brot wer Mesolithikum und Älter sammelt!
Umso mehr gebührt Dir die Ehre für den tollen Fund.

Grüße
Peter :winke:

thovalo



Ich konnte heute nochmal eindrücklichere und nähre Aufnahmen machen.  :glotz:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



In die Zeit des Gravettien passen auch die Noailles-Stichel!   :glotz:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#9


Hallo zusammen!  :winke:


Heute Abend kam die fachliche Rückmeldung zur Spitze die sie nicht als Mikrogravettspitze identifiziert:

vielmehr handelt es sich um eine spätpaläolithische Spitze eines in Mitteleuropa sehr seltenen Typs, der teilweise in Frankreich und häufiger in England auftritt. In England werden diese gestielten Spitzen als "penknife-points" bezeichnet und kommen häufiger in der Höhle "Mother Grundy's Parlour" vor. Diese Spitzen datieren in die spätpaläolithische Alleröd-Warmphase. Die flache, zur Spitze laufende ventrale "Retusche" ist den Ausführungen zufolge eine Beschädigung, die auch alt sein kann.



zu den Penknife Points heisst es im Floss S.512

"Das britische Spätpaläolithikum zeichnet sich durch gestielte Rückenspitzen, die penknife points, aus, die1926 von D. Carrod im spätpaläolithischen Inventar von Mother Grundy´s Parlour in den Creswell Crags (Derbyshire) identifiziert wurden. Sie beschreibt sie als kleine konvexe Rückenspitzen mit schräger Basisretusche, die eine Art von Stiel bildet ..... Trotz des Stiels bezieht H. Schwabedissen die penknife points in die Definition der Federmesser mit ein, was dazu führt, dass diese Stücke außerhalb Englands keinen Sonderstatus einnehmen und in die Variationsbreite der Federmesser fallen. Vergleichbare Formen sind die so genannten pointes á base rétrécie des südwestfranzösischen Azilien und [i]Mikrogravettespitzen [/i]im italienischen Epigravettien."


So ganz lag ich ja dann auch nicht neben der Spur  :zwinker:

Insbesondere der Neufund mit seiner längeren Gegenretusche ist dann tatsächlich eine hybride Form zwischen einer Rücken- und einer Stielspitze. In der Urgeschichte am Rhein von G. Bosinski findet sich kein Vergleichsstück zu dieser Sonderform dokumentiert.

Es ist schon bemerkenswert das Schwabedissen diese Sonderform nicht definiert hat.


lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Wiesenläufer

Was habt ihr für schöne, traumhafte Fundplätze !!
Da kann ich hier im Norden nur von träumen. Bis jetzt noch nicht ein richtiger paläolithischer Fundplatz.
Eine richtige Freude Eure Beiträge zu lesen.  :super:
Gruß
Gabi
Wer viel geht, findet viel.
(Nicht auf meinem Mist gewachsen)

thovalo

Zitat von: Wiesenläufer in 31. Oktober 2017, 19:38:05
Was habt ihr für schöne, traumhafte Fundplätze !!
Da kann ich hier im Norden nur von träumen. Bis jetzt noch nicht ein richtiger paläolithischer Fundplatz.
Eine richtige Freude Eure Beiträge zu lesen.  :super:
Gruß
Gabi



Liebe Gabi!

Die Federmesser- und Ahrensburger Fundplätze sind ja eher im Norden vertreten. Den Platz von dem die hier gezeigten Funde stammen zu "entdecken" und dann näher zu erschließen hat über Jahre hinweg viel Mühe gekostet. Es ist der Lohn sehr vieler Stunden Prospektionszeit über Jahre hinweg.

Es gibt von diesem Platz noch gut zweihundert weitere Feuersteinartefakte, Stichel, Kratzer, zwei Retuscheure aus Geröllen, ein stark verwendeter Amboßstein und eine Sandsteinperle.

Fast schon erschreckend wie viel Zeit inzwischen mit Suchen und Finden ins Land gegangen ist.


lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.