Scherben aus alter Abfallgrube

Begonnen von Rheinpirat, 14. November 2022, 11:45:20

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Rheinpirat

Hallo zusammen,

ich verlege momentan in meinem Garten historisches Kopfsteinpflaster und bin in ca. 50 cm Bodentiefe auf eine alte Abfallgrube gestoßen. Ich hab es mir natürlich nicht nehmen lassen, den kompletten Bereich auszuheben, bevor er unter dem Pflaster verschwindet, damit mir blos kein Reichspfennig entgeht ;-). Es handelt sich um das Grundstück einer ehemaligen Gaststätte, die es gesichert zwischen ca. 1760 und 1910 gab. Unser Gemeinde-Historiker vermutet allerdings, dass seit dem 12. Jhd. hier ein Klosterhof stand, der im 30jährigen zerstört wurde und auf dessen Grundmauern ab 1760 wieder aufgebaut wurde.
Entsprechend der ehemaligen Nutzung des Grundstücks habe ich Unmengen neuzeitlicher Scherben (ab ca. 1850), Tierknochen, Dachziegel und Wandverputz (interessanterweise mit tiefblauer Farbe gestrichen) gefunden. Es wäre natürlich extrem spannend anhand der Fundstücke nachweisen zu können, wie lange die Abfallgrube genutzt wurde. Der jüngste Fund war ein Mundwasserfläschchen aus den 50ern. Neben den eindeutig neuzeitlichen Scherben sind mir vier ins Auge gesprungen, die aus meiner Sicht älter scheinen. Ich habe mich etwas eingelesen zum Thema Scherben-Datierung, bin mir aber nicht sicher, ob ich die entsprechenden Merkmale in der Praxis erkenne. Ich habe die Bilder angefügt und meine Vermutung dazu ergänzt. Meint Ihr, dass ich in etwa richtig liegen könnte mit meiner Einschätzung? Achso, Fundort Raum Karlsruhe.

Zu 1.: Die Scherbe gehört zur Wand eines runden Gefäßes und weist einen Teil des Gefäß-Bodens auf. Die Außenseite (Bild oben links) ist glatt, die Innenseite (oben rechts) weist  Rillen und teils aufsitzenden oder eingebackenen Sand auf. Es ist keine Glasur vorhanden. Der Bruch scheint zweifarbig zu sein, grau und orange (am Original besser zu erkennen als auf den Fotos). Könnte es sich dabei um eine hochmittelalterliche reduziert gebrannte Keramik handeln?

Zu 2.: Scheint ein Henkelgefäß gewesen zu sein. Außenseite (unten links) ist glatt und unglasiert. Innenseite (oben links) ist glasiert und im Original etwas heller als auf dem Foto zu sehen, eher Richtung senfgelb. Meine Vermutung geht in Richtung ausgehendes Mittelalter, bin mir aber unsicher.

Zu 3.: Das scheint ein keramisches Kochgefäß gewesen zu sein, wie die Rußspuren auf dem Gefäß-Boden (oben links) vermuten lassen. Die Außenseite (oben links) besitzt Spuren einer dünnen Glasur, die ist aber sehr unsauber aufgetragen und nur im oberen Teil der Scherbe erkennbar. Die Innenseite (oben rechts) ist dick orange glasiert. Aus dem Bruch kann ich nichts herauslesen. Aufgrund der Nutzung als Kochgefäß vermute ich frühe Neuzeit. Ich habe hier vor einiger Zeit einen keramischen Pfannenstiel gezeigt, der ähnliche Glasurmuster aufweist.

Zu 4.: Ich vermute, dass die Stücke zu einem Teller gehört haben. Andere Gefäßformen machen meines Erachtens nach wenig Sinn. Das Bild oben links dürfte die Unterseite zeigen. Auffällig ist der ziemlich unsauber gearbeitete Rand. Insgesamt scheint das Stück eher grob gearbeiet worden zu sein. Es ist eine sehr feine, helle und matte Glasur auf Ober- und Unterseite vorhanden, die scheinbar in den Ton eingedrungen ist. Im Bruch sind die Scherben mittig fahl-orange und an den Rändern hellgrau. Zudem sind Sandeinschlüsse erkennbar. Die Datierung fällt mir schwer, eventuell ebenfalls frühe Neuzeit.

Danke Euch schon vorab für Eure Meinung.

Viele Grüße
Rheinpirat

thovalo


Neuzeitlich, teil innen glasierte Gefäßfragmente. Die Innenglasur dichtete den porösen Scherben ab.
Zuletzt ein Deckelfragment.  :glotz:




lG Thomas
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Rheinpirat

Hallo Thomas,

danke fürs Drüber-Schauen. Schade, bei der Nr. 1 hatte ich tatsächlich ein wenig Mittelalter-Hoffnung, da hilft wohl nur weitersuchen :-)

Mit dem Schreg (2007) und Gross (2003) konnte ich die ein oder andere nicht gezeigte Scherbe zeitlich anhand des Dekors noch etwas genauer eingrenzen. Damit lässt sich die Nutzung des kleinen Abfallhaufens auf mindestens ca. 200 bis 250 Jahre datieren. Auch wenn nichts Mittelalterliches dabei ist, aus heutiger Sicht trotzdem beeindruckend lange.

Viele Grüße
Rheinpirat

Rheinpirat

Als kleiner Nachtrag:

Die Nr 1 konnte ich inzwischen teilweise wieder zusammenpuzzeln. Scheint eine Art Vase mit Henkel gewesen zu sein und besitzt auf einer Seite deutliche Brandspuren.
Die unschönen Kleberreste bitte ich zu entschuldigen, war auf Grund des dünnen Materials kaum besser zu machen. Die kommen dann im trockenen Zustand noch ab.

stratocaster

Das Sucherforum dankt all denen,
die zum Thema nichts beitragen konnten
und dennoch geschwiegen haben !

Rheinpirat

Und als Nachtrag zum Nachtrag die ergänzte Version mit allen Teilen, die noch auffindbar waren. Bei der Nachsuche ist auch noch ein zweiter Henkeltopf zum Vorschein gekommen, ebenfalls mit starken Brandspuren und teils stark beriebenen Bruchkanten. Zeitlich leider nicht so einfach eingrenzbar. Das rote/braune Dekor wurde in Nordbaden zwischen ca. 1550 und 1850 verwendet. Von beiden Stücken gibt es weitere identische Exemplare aus anderen Fundkomplexen, leider alle ohne konkrete zeitliche Einordnung.

Fabulas

Zitat von: Rheinpirat in 17. November 2022, 08:15:42
Und als Nachtrag zum Nachtrag die ergänzte Version mit allen Teilen, die noch auffindbar waren. Bei der Nachsuche ist auch noch ein zweiter Henkeltopf zum Vorschein gekommen, ebenfalls mit starken Brandspuren und teils stark beriebenen Bruchkanten. Zeitlich leider nicht so einfach eingrenzbar. Das rote/braune Dekor wurde in Nordbaden zwischen ca. 1550 und 1850 verwendet. Von beiden Stücken gibt es weitere identische Exemplare aus anderen Fundkomplexen, leider alle ohne konkrete zeitliche Einordnung.

Wunderschönes Teil, was Du da wieder hergestellt hast. Bin beeindruckt.

Viele Grüße
Anita

RockandRole

Sehr cool  :staun: das hat sich aber gelohnt

liebe Grüße Daniel
gefährliches Drittelwissen

Rheinpirat

#8
Danke Euch für das Lob.

Eine vertiefte Recherche hat etwas ziemlich Spannendes (Achtung, leicht markaber!) ergeben:
" [..] beim Tieferlegen des Bodens ein Scherbennest beobachtet, aus dem schließlich zwei annähernd vollständige Gefäße geborgen bzw. rekonstruiert werden konnten: zwei dünnwandige Henkeltöpfe mit Innenglasur, dabei ein Knaufdeckel (Abb. 8). Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden in diesen Gefäßen Nachgeburten bestattet. Der Brauch, Nachgeburten in Tongefäßen zu vergraben – an dunklen Orten unter der Treppe, in Kellern oder, wie in Nehren, in Scheuern – ist seit dem 16. Jahrhundert schriftlich belegt, die ältesten archäologischen Belege weisen noch ins Mittelalter. Zum Massenphänomen wird die Nachgeburtsbestattung, die in Baden-Württemberg besonders gut erforscht ist, allerdings erst im 17./18. Jahrhundert, wobei sich eine Konzentration der Fundorte auf die evangelischen Landesteile abzeichnet." von S. Frommer. Nachzulesen beim "Geschichtspfad der Gemeinde Nehren".

Und noch ein Zitat aus dem Museum für Vor- und Frühgeschichte Langenau:
"Die Nachgeburt sollte dem Volksglauben nach an einem Platz vergraben werden, auf den weder Sonne noch Mond scheinen konnten. Meist wurden sie deshalb in einem Tongefäß im Keller eingegraben.[..] Im Gegensatz zu anderen Gefäßen, waren diese Art Töpfe oft dünnwandig, schlecht glasiert und als normales Küchengefäß nicht zu gebrauchen."

Die auffällig dünne Gefäßwand ist mir bei beiden Objekten ins Auge gesprungen. Habe mich schon gefragt, ob man in so dünnen Gefäßen wirklich kochen kann. Ist auch eine evangelische Gegend. Passt wie Faust aufs Auge.

Rheinpirat

Kleines Update:
Nach einem Telefonat mit unserem Ortshistoriker jetzt die Bestätigung, sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zwei Nachgeburtstöpfe aus der Zeit zwischen 1600 und 1800. Da man nach jeder Geburt so einen Topf an einer bestimmten Stelle (kein Sonnen- und kein Mondlicht) vergraben hat, erklärt sich die direkte Nachbarschaft am Fundort. Meine Scheune scheint daher mal größer gewesen zu sein. Die markanten Brandspuren müssen von einem Gebäudebrand gekommen sein, da sie ja eingegraben waren und so nur indirekte aber wohl große Hitze abbekommen haben. Das lässt spontan an den Pfälzischen Erbfolgekrieg denken. Der General Melac hat hier damals keinen einzigen Stein stehen lassen. Dass die Töpfe vor 1690 verbuddelt wurden, wäre daher nicht ganz auszuschließen.

Ist vor Ort der Erstnachweis dieser protestantischen Praxis, also eine Mini-Sensation. Gemäß damaliger Auffassung sollte jedes Köerperteil bestattet werden. Schade, könnte man die Keramik aufs Jahr genau bestimmen, könnte man anhand der Kirchenbücher evetuell Mutter und Kind direkt zuordnen.

Also von der vermeintlichen Abfallgrube ab ins Museum  :prost:

PS: Nr. 4 im ersten Post ist übrigens der zugehörige Deckel

Fabulas

Zitat von: Rheinpirat in 17. November 2022, 18:24:58
Kleines Update:
Nach einem Telefonat mit unserem Ortshistoriker jetzt die Bestätigung, sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zwei Nachgeburtstöpfe aus der Zeit zwischen 1600 und 1800. Da man nach jeder Geburt so einen Topf an einer bestimmten Stelle (kein Sonnen- und kein Mondlicht) vergraben hat, erklärt sich die direkte Nachbarschaft am Fundort. Meine Scheune scheint daher mal größer gewesen zu sein. Die markanten Brandspuren müssen von einem Gebäudebrand gekommen sein, da sie ja eingegraben waren und so nur indirekte aber wohl große Hitze abbekommen haben. Das lässt spontan an den Pfälzischen Erbfolgekrieg denken. Der General Melac hat hier damals keinen einzigen Stein stehen lassen. Dass die Töpfe vor 1690 verbuddelt wurden, wäre daher nicht ganz auszuschließen.

Ist vor Ort der Erstnachweis dieser protestantischen Praxis, also eine Mini-Sensation. Gemäß damaliger Auffassung sollte jedes Köerperteil bestattet werden. Schade, könnte man die Keramik aufs Jahr genau bestimmen, könnte man anhand der Kirchenbücher evetuell Mutter und Kind direkt zuordnen.

Also von der vermeintlichen Abfallgrube ab ins Museum  :prost:

PS: Nr. 4 im ersten Post ist übrigens der zugehörige Deckel

Spannend! Gute Recherche. Übrigens hat meine Nichte die Nachgeburt auch bei uns bestattet. So ganz weg ist dieser Brauch also nicht. Und eigentlich auch gar nicht makaber.

Liebe Grüße
Anita

Wiedehopf

Super interessant !

Kleine Ergänzung aus dem 'Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens':

ZitatDas Begraben geschieht meist mit besonderer Sorgfalt nach Sonnenuntergang bisweilen heimlich und unter Sprüchen mit Vaterunserbeten aber auch 'unbeschrien' oder mit schweigendem Verbeugen nach den vier Himmelsrichtungen. Man begräbt die Nachgeburt in einem neuen Topf, mit dem Deckel nach unten oder mit einem Stein beschwert auf den die Wöchnerin nach ihrem ersten Aufstehen treten muß.
Man begräbt sie weit abseits, sicher vor Hund und Katze, unter dem Grenzzaun aber auch im Garten, besonders unter Fruchtbäumen, auch unter dem Rosenstock, ferner bedeutsamerweise ausdrücklich nicht im Freien sondern in der Scheune, im Stall, unter der Diele, unter der Stiege und endlich tief im Keller.   

Viele Grüße
Michael

Rheinpirat

Hallo Anita, Hallo Michael,

danke für die Infos.

Zitat von: Fabulas in 17. November 2022, 21:20:24
Und eigentlich auch gar nicht makaber.

Das ist natürlich richtig, in der Hinsicht muss ich zurückrudern. Da waren einfach die Assoziationen RIchtung Bestattung, Urne und menschliches Gewebe im ersten Moment etwas befremdlich.