Funde eines spätpaläolithischen "Rückenspitzenfundinventars"

Begonnen von thovalo, 28. November 2016, 19:51:22

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thovalo


Das Fundgelände liegt am rechten Niederrhein auf ca. 60 cm Parabraunerde über glazialen Sanden. Das Fundaufkommen zeigte sich in Bezug auf die Art des Abbaus der Kernsteine weniger systematisch ausgeführt als die Funde der benachbart gelegenen mesolithischen Fundplätze.

Das war über mehrere Jahre irritierend und führte dazu, dass ich den Platz nicht oft auf- und abgesucht habe.
Als retuschierter Fundbeleg lag lange Zeit ausschließlich ein vergleichsweise großes Rückenmesser vor.

Dann entstand die Ahnung, dass der Platz älter datieren könnte und die Anstrengungen zur Prospektion wurden verstärkt.

Es kam inzwischen eine größere Anzahl an Artefakten zusammen und tatsächlich scheint es sich um einen für diese Zeitstellung am rechten Niederrhein sogar sehr großflächigen Fundplatz mit verschiedenen Aktivitätszonen gehandelt zu haben. Für den rechten Niederrhein ist das eine besondere Fundbeobachtung da sich die Verbreitung solcher Fundplätze bislang ganz auf das Gebiet des linken Niederrheins konzentriert hatte.

Rechtsrheinisch fanden sich dem gegenüber an verschiedenen Fundplätzen bei Erdarbeiten immerhin drei Knochenharpunen, bei Prospektionen u.a. das links gezeigte "Federmesser" und die wichtige Doppelbestattung von Bonn-Oberkassel. Nun deutet sich rechtsrheinisch erstmalig auch ein größerer Befundkomplex an. Auch wenige Kilometer weiter westlich der hier vorgestellte neuen Fundstelle scheint sich im Bereich der Uferpartie des Rheinlaufs ein dritter Fundplatz anzukündigen.


Die größte Zahl der Fundbelege liegt derzeit für mich nicht unmittelbar verfügbar gelagert. Unter den aktuellen Neufunden befanden sich die hier gezeigten Stücke.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#1


Eine leider rezent ordentlich beschädigte Rückenspitze mit einer extrem steil retuschierten gebogenen Rückenlinie.
Die äußere Spitze ist abgebrochen, ein Teil der Schneidenpartie abgedrückt.


PS: Im Avatar links eine Rückenspitze vom Typ der "Federmesser" aus nordischen Bryozoenfeuerstein von einer vermutlich etwas jünger datierenden, nur wenige Kilometer weiter entfernt gelegenen spätpaläolithischen Fundstelle.


Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#2


Auf dem Platz fällt ein deutlicher Anteil von Sticheln auf.  Unter den Neufunden ein sehr eindrückliches Exemplar das, im Gegensatz zur ramponierten Rückenspitze, glücklicherweise keine einzige Macke abbekommen hat.

Es handelt sich um einen Stichel an einer recht grob ausgeführten Endretusche.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Ein Kern und ein durchgeschlagener Kernfuß 



lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Merle2

Hallo Thomas,

Schön von dir zu lesen! Du hast da tolle Funde gemacht und ich bin sehr gespannt noch weitere Funde zu sehen. Ich finde die Retusche an der "ramponierten" Rückenspitze und am Stichel sehr eindrucksvoll, irgendwie wirkten die Retuschen dieser Zeit Stellung grob und "hart". Weiterhin viel Finderglück :winke:
Ggg
Marc

thovalo


Ja, Dein Eindruck trifft zu!

Das Inventar ist sehr "pragmantisch" ausgeführt. Ich schau mal wann ich die Fundkiste hier rüber holen kann.
Ich freue mich schon sehr darauf wenn es dort im Frühjahr weiter gehen kann.

lG Thomas  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Inzwischen konnte ich einige weitere Fundbelege zur Abbildung mit nehmen. Es sind bislang fünf Stichel, darunter auch der bereits gezeigte der zuletzt aufgelesen werden konnte. Drei einfache Stichel und zwei Mehrfachstichel (3. und 4. von links).
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo




Zwei Stichellamellen die an die bereits vorliegenden Stichel nicht anpassen. Für diesen Platz ist damit auch die Produktion von Sticheln und das Vorhandensein von zumindest sieben Stichel belegt. Das ist eine im Vergleich zu anderen Plätzen der "Federmesserkultur" am Niederrhein bereits hohe Fundzahl dieses Artefakttyps, die für das Fundareal auf einen Schwerpunkt der Bearbeitung von Geweih und Knochen hindeutet. Zugleich stärkt das die Annahme dass es sich nicht um einen der eher üblichen kurzen Aufenthalte dieser Kulturgruppe im Rheinland handelt sondern um ein entweder mehrfach besuchte oder eine über mehrere Tage oder Wochen hinweg belegte Jagdstation mit verschiedenen Arbeitsbereichen, denn auch die Grundformproduktion ist am Platz in Form von Kernsteinen, nicht verwendeter und misslungener Grundformen nachzuweisen.


Die erste großformatige Stichellamelle passte an eine Stichelform wie dem ersten Stichel in der Gesamtübersicht von links.
Die kleine Stichellamelle kann ein Nachschärfungsschlag gewesen sein.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



und kurze Kratzer.


Dieser ist in der Arbeitskante bereits alt ausgebrochen.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Charakteristisch sind ebenfalls Rückenmesser von denen inzwischen drei leider rezent gebrochene Proximalfragmente vorliegen.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#13


Das randlich fein steil retuschierte Fragment der quer und längs gebrochenen Grundform einer Klinge gehörte möglicherweise zu einem Bohrer.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Eine Auswahl der aktuell vorliegenden Belege der Grundformproduktion
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Nanoflitter

Feine Sachen von einem guten Platz! Schön, das du auch ansprichst, wie viel Zeit vergeht, bis ein Fundplatz zeigt, was in ihm steckt! :super: Gruss...

thovalo

#16


Ja, das trifft zu. Es braucht viel Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen. Mit der Zeit lernt man immer mehr näher hin zu sehen und mit den "Augen" zu verstehen. Das gilt insbesondere auch auf das Achten auf Felsgesteinartefakte.


Hier noch Bilder von Debitage aus der letzten Begehung
Aus vorangegangenen Begehungen liegt noch viel mehr davon vor.


Insgesamt ist das Verhältnis von bis heute aufgelesenen Belegen von Gerätschaften gegenüber den Überresten der Grundformproduktion (Kernsteine und Debitage) verglichen mit andern Plätzen recht hoch.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#17

In der Magedaléneinzeitlichen Tradition wurden bevorzugt größere Klingengrundformen verwendet. In der Federmesserkultur am Niederrhein werden größere Klingen nur noch selten hergestellt, da sich die Gerätschaften im Zuge die Entwicklung von Kompositgerätschaften in Form immer kleinformatigeren Steineinsätzen bis in zur Mikrolithik des Mesolithikums progressiv fortschreitend entwickelte.

Der rechte Niederrhein hat an diesem Abschnitt, im weiteren Ruhrmündungsgebiet, nur relativ kleinformatige "Maaseier" und bis zu faustgroße Rohgesteinstücke baltischen Feuersteins in bester Erhaltung in glazialen Ablagerungen bei Ratingen-Breitscheid im Kreisgebiet Mettmann als Silexressource zur Verfügung.


Die Klinge misst 70 mm (7 cm) Länge und besteht, dem Eindruck der Rindenpartie und der Maserung folgend,  vermutlich aus Massschotterfeuerstein, wodurch wiederum ein Bezug zu weiter westlich anstehenden Rohgesteinlagerstätten oder ein möglicher Austausch von Grundformen im Verlauf der Wanderbewegungen zwischen verschiedenen Gruppen erkennbar wird.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#18


Dieses intensiv retuschierte Fragment aus der Grundform einer Klinge zeigt Merkmale einer Stielspitze. Ein paralleles Auftreten von Federmesser und Stielspitze muss nicht zwingend auf eine unterschiedliche Zeitstellung hindeuten. Ein solches Projektil mit einem länger herausgearbeiteten Schaft ist z. B. aus den Grabungen vom Kartstein bekannt.

Es ist zumindest am Niederrhein noch viel zu wenig über die chronologische Abfolge, Zusammenhänge und Überschneidungen typologischer Phänomene von Federmesserkultur und Stielspitzenkultur bekannt.


Etliche vorlaufende Elemente finden sich bereits schon im ausgehenden Jungpaläolithikum
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo




Neben den Silices sind für den Nachweis der tatsächlichen Ausführung von Arbeiten vor Ort sind auch Fundbelege lithische Artefakte aus Felsgestein von Bedeutung. Diese wurden in früherer Zeit entweder kaum oder gar nicht wahr genommen und nur selten mit Abbildungen publiziert.


Wichtig ist unter den Felsgesteinfunden des Platzes ist die Beobachtung einer Schlagsteins aus einem Quarzitgeröll mit einer vorstehenden Partie deren Oberfläche durch aktives Schlagen flächig abgenutzt ist und der auf der Unterseite sehr deutliche ein Narbenfeld aufweist.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#20

Auch dieses Geröll aus einem verkieselten Tonschiefer ist für die Arbeit auf dem spätpaläolithischen Fundplatz eingesetzte worden. Das schmalere Ende (auf den ersten beiden Bildern nach Untern ausgerichtet) weist zwei im Gebrauch entstandene gegenständig angelegte Reibfacetten auf. Was immer man damit bearbeitet hat, es war einen reibende hin und her ziehende Bewegung unter Druckeinwirkung auf einem festen harten Untergrund. Man erkennt die Stries der  die durch die Reibung entstanden sind.

Seitlich finden sich klassische Retuschiernarben, die nach allgemeiner fachlicher Ansicht der Kantenbearbeitung im Verlauf der Zurichtung von Silexgrundformen zugerechnet wird.


Als sich zunehmend andeutete in welchem Zeitspektrum das Fundaufkommen entstanden ist, lohnte sich das Ansehen jeden Steingerölls das für Tätigkeiten in urgeschichtlicher Zeit geeignet gewesen wäre.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

#21


Das vorangegangene jungpaläolithische Magdalénien im Rheinland repräsentiert einen Höhepunkt der Fundüberlieferung von "Kunst" im weitesten Sinne (insbesondere Gravuren und plastische Darstellungen).

Belege von Kunst und Schmuck aus der Zeit des späten Paläolithikums sind dem gegenüber immer noch extrem selten. Aus dem Rheinland sind das insbesondere die Elchdarstellung und der Haarpfeil aus der Doppelbestattung von Bonn-Oberkassel, der mit Tierdarstellungen verzierte Retuscheur von der Sieg und wenige in der Darstellung eher schlicht und abstrahiert ausgeführte Gravuren in Schiefervarietäten.

Einige grob zurecht gestutzte kleinformatige Braunkohlestücke des Federmesserfundplatzes Wesseling werden gleichfalls dem Bereich abstrahierender menschlicher Ausdrucksformen zugerechnet.


Von dem hier entdeckten rechtsrheinisch gelegenen Fundplatz stammt als Besonderheit eine kleinformatige gelochte Perle aus Sandstein. Perlen aus Sandstein und kleine Schieferrondelle sind mit dem Fundbestand der Federmesserkultur in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet verbunden.

In der Fundsituation sind derart kleine Artefakte, zumal noch vollkommen mit Erdreich verdreckt, nur sehr schwer zu erkennen. Bei der Entdeckung half insbesondere die massiv entschleunigte und sehr achtsame Begehungsweise mit Begehungszeiten über viele Stunden hinweg.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.