Kratzer? Bohrer?

Begonnen von rolfpeter, 17. Juni 2008, 21:08:29

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rolfpeter

Servus Freunde,

hier ist ein kleines Gerät, von dem ich, als ich es aufhob dachte, es sei ein Kratzer. Nachdem ich den Fund gereinigt hatte, fiel mir allerdings auf, daß die schön retuschierte vermeintliche Kratzerkappe im Bereich der Kante völlig unbeschädigt ist. Normalerweise kann man bei benutzten Kratzern dort immer Ausbrüche erkennen. Bei diesem Stück sind die deutlich zu erkennenden Arbeitsspuren aber an den Längsseiten. In der Dorsalansicht erkennt man auch, daß der Hersteller das Artefakt spitz zugerichtet hat, die Retuschen gehen bis zum Grat. Im Bereich der lateralen Beschädigungen hat das Gerät einen gleichseitig-dreieckigen Querschnitt. Das wiederum spricht für einen Bohrer. Der gesamte Bereich der Spitze, etwa 3/4 der Gesamtlänge, ist leicht glänzend.
Tja, um was handelt es sich? Abgebrochener Bohrer, den man noch zum Kratzer umgearbeitet hat?
Fundort ist eine alt-, mittelneolithische Siedlungsstelle.
Hier die Fotos:











Bin für jeden sachdienlichen Hinweis dankbar.
HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Silex

Das Gerät verblüfft mich auch, RP.
a, weil es  dorsal so  schön durchretuschiert ist
b, weil die Abplatzungen an der Seite noch von überstehenden Graten im Spitzenbereich überragt werden.
c, die Spitze kaum Beanspruchungsquetschungen von Bohrtätigkeit aufweist....
d, die Kratzerkante sehr steil ist und kaum benutzt erscheint.
Zuerst dachte ich auch an einen Kratzer mit Schäftungsbuchten...aber dann machten die "aufwendigen" Retuschen kaum Sinn
Ein Bohrer scheint wegen b und c auszuscheiden.
Schneiden mit den Seitenkanten wäre auch  unwahrscheinlich.
Ich tippe auf ein  an der Spitze abgebrochenes Kombigerät... zum "Lochen"  wobei die  (auch leidlich benutzte) Kratzerkante als Handballendruckstütze diente...die seitlichen  Entschärfungen könnten den Fingern Halt gegeben haben.
Vielleicht aber auch  ein geschäfteter Kratzer...?

Fern jeder wissenschaftlicher Theorie und Praxis- nur ein vager  Deutungsversuch.

Wo findest Du derzeit noch?

Bis bald
Edi
Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.

rolfpeter

Servus Edi,

da bin ich also nicht der einzig verblüffte!
Es gab im heutigen Belgien, im Hainaut eine Kultur, die nennt sich "Groupe de Blicquy". Die haben Geräte hergestellt, die entfernt an dieses Stück erinnern. Es handelt sich dabei um langgestreckte Abschläge, die einen rechteckigen oder dreieckigen Querschnitt haben. Die dreieckigen werden "quartiers d'orange", also Apfelsinenviertelchen und die rechteckigen "frites", also Pommes (haha, typisch belgisch  :narr:) genannt. Bei diesen Geräten sind die Gebrauchsspuren auch überwiegend an den Lateralseiten vorhanden. Man nimmt an, daß sie als Ziehmesser gebraucht wurden. Zwei Stücke von der bandkeramischen Siedlung Erkelenz-Kückhofen sind auf Gebrauchsspuren untersucht worden, mit dem einen ist Holz, mit dem anderen ist Geweih oder Knochen bearbeitet worden. Mit untersuchten Stücken aus Belgien hat man nachweislich weichen Stein bearbeitet. Man nimmt an, daß sie bei der Herstellung von Schieferarmringen verwandt worden sind. Armringbruchstücke aus Schiefer oder anderem Gestein werden vereinzelt auf altneolithischen Siedlungen im Rheinland gefunden.
Allein - die Frites sind wesentlich größer. Die beiden Stücke, von denen ich eine Abbildung habe, sind etwa 90 mm lang, mein Fund mißt mickrige 40 mm in der Länge. Aber es gibt ja auch große und kleine Fritten.
Ja - wo finde ich jetzt noch?
Ich habe noch ein zurückgebliebenes Rübenfeld, da geht noch was. Und dann laufe ich über die Gassen, die von der Spritzmaschine in Rüben- oder Kartoffelfelder gefahren werden. Das sind zwei jeweils 80 cm breite Streifen, die man noch gut einsehen kann. Es handelt sich dabei eher um eine Prospektion im 30m - Raster, also um eine Investition in die Zukunft, richtig was finden tut man dabei nicht.

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Silex

Danke RP für dieses Spezialwissen über "ziehende"  Geräteformen. Da rattern mir gleich etliche Werkzeugfunde durchs Gehirn.
Man sollte sich wirklich öfter in Werkstätten begeben und vor allem die Holzbearbeitungswerkzeuge begreifen.
Die Formungsprozesse und die Werkzeugformen dürften sich (außer hinsichtlich des Materials) nicht allzusehr unterscheiden.
Beil,Hobel, Kratzer, Stichel, Löffelmesser, Geißfuss, Abdrehmesser, Beitel, Entrinder, Spalter, Nutfräser, Schnitzmesser, Bohrer...etc.
Lernen und Anschauen macht hier wirklich Spaß!
Was es genau war wirst Du uns bestimmt noch mitteilen, RP!

Bis bald
Edi
Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.