Zwei Kernsteine von einem spätpaläolithischen "Federmesser"-Fundplatz in NRW

Begonnen von thovalo, 13. September 2019, 15:45:53

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thovalo



Guten Tag!  :winke:

Hier zwei in dieser Woche aufgelesene Kernsteine eines kaum abgeregneten Federmesserfundplatzes an einem kleineren Gewässerlauf bei Düsseldorf (NRW). Beide bestehen aus "nordischen"/"baltischen" Feuerstein der in wenigen Kilometern Entfernung östlich im Bereich des sog. "Düsseldorfer Lobus" an der Oberfläche in guter Bearbeitungsualitäts aufzulesen war. Die Wanderbewegung dieser Gruppe(n) führte aus Westfalen an den Niederrhein, sodass die Menschen auf ihren Passagen auch diese Stelle aufsuchen und das Material dan nauf ihrer Wanderung it nehmen konnten. Der Fundplatz war in Bezug auf seine Entfernung zur Rohgesteinlagerstätte sehr ruhig in einer Tagesreise zu erreichen. Am Platz selber liegen auch einige Rohfeuersteinstücke aus einem Materialdepot vor.

Der erste Kernstein hat eine präparierte Abbaufläche und eine teilweise deutlich "untersteilte" Arbeitsfornt die gelblich eingefärbt ist. Die Patinierung ist an diesem Stück kaum ausgeprägt.


Die Bilder: 1. Aufsicht auf die Schlagfläche 2.-3. Ansichten der Abbaufront 4. die Untersicht mit einem kleinen Kortexrest innerhalb einer eingestülpten Kaverne.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo

Der zweite Kernstein ist bereits weiß fleckig bis porzellanartig patiniert und zeigt eine Abbaufront mit zwei Negativen, von denen das rechte Negativ durch einem im falschen Winkle aufgetroffenen harten Schlaf einen Mittelteil des Negativs am Kernstein hat stehen lassen.

Dies ist die negative Form eines Schlagereignisses in der Art der "fracture en nacelles" ohne dass sich das "segment" selber gelöst hätte. Die Schlagenergie lief zu tief ein,hat die Mitte übersprungen uns ist damm wieser tiefer eingelaufen.

Die Schlagkante ist durch die intentionelle Schägung des Kernsteins freigestellt worden, sodass der Schlagstein gut platziert werden konnte.



auf dem ersten Bild die Seitenansicht mit der im oberen Teil erkennbaren Anschrägung

auf den folgend zwei Ansichten die Abbaufront mit zwei Negativen. Ein schmaler Klingenabschlag scheint gelungen zu sein, der breite Abschlag ist misslungen.
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Interessant ist die Beobachtung, dass die Menschen in dieser Zeit auf diesem Platz weitgehend keine spezifisch ausdifferenzierte Technologie der Feuersteinbearbeitung ausgeführt haben.

Es fanden sich auch zwei Stücke abgeschlagender Ausstülpungen von größeren Flintknollen.
Diese wurden anscheinend rein pragmatisch als Kernsteinvorarbeiten verwendet.

Die Bilder zeigen den zuletzt gezeigten Kernstein immer aus derselben Position wie das noch nicht bearbeitete Teilstück.



- erstes Bild zeigt die Ansicht der unbearbeiteten natürlich überprägten Rücksteiten der abgetrennten Knollenecken

- zweites Bild die Aufsicht auf die optionale Schlagfläche

- das dritte Bild zeigt links die Abbaufront des Kernsteins und die noch unbearbeitete Front des bauchigen Abschlags von einer Flintknolle als Ausgangsstück zu einer vergleichbaren Nutzung als Kernstein
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

thovalo



Die Ansicht des Platzes zeigt, das möglicher Regen noch zu deutlich mehr Fundbelegen führen könnte. Betrachtet man das meist sehr geringe Format der Artefakte wird in den hart vertrocktenen Knubbeln die die riesige Fläche übersähen noch so mancher interessante Fundbeleg stecken, zumal ich die gesamte Fudnfläche gar nicht schaffen konnte!

Allein schon das ruhige Abgehen bei grellsten Sonnenschein brachte insgesamt bereits eine erstaunliche Fundanzahl.

Man muss sich nur ordentlich viel Zeit nehmen und lange die Ruhe behalten.


lG Thomas  
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Danske

Hallo Thomas,

wenn ich mir die Fotos des Fundortes anschaue, wäre ich zunächst nicht auf einen Fundplatz aus dem ausgehenden JP gekommen. Da hätte ich eher was neolithisches vermutet.

Merkwürdig ist die unterschiedliche Patinierung der beiden aus dem gleichen Material bestehenden Kerne. Das zeigt mal wieder, dass die Entstehung und die Ausprägung der Patina bei Steinartefakten noch immer nicht eindeutig und abschließend geklärt ist. Vielleicht lag das stärker patinierte Stück über einen längeren Zeitraum an der Oberfläche und war dort den Witterungseinflüssen und Strahlungen länger ausgesetzt. Was aber nicht erklären würde, dass bei Grabungen in der Erde gefundenen Stücke stark patiniert sein können.

Formenkundlich haben die beiden Kerne m.E. nach Ähnlichkeit mit Stücken aus dem nordischen Mesolithikum, vor allem aus der Maglemosezeit. Offenbar wurde die Art und Weise des Klingenabbaus bis in die Zeit der späteren Jägerkulturen des Mesolithikums beibehalten. Dazu meine Frage: Wenn du nicht wüsstest, dass es sich um einen Federmesser-Fundplatz handelt, würdest du die Kerne trotzdem in das ausgehende JP datieren? Oder anders gefragt: Könnten die Kerne auch aus einer späteren Zeit datieren?

LG
Holger
Et nunc reges intelligite, erudimini, qui judicatis terram.

thovalo



Lieber Holger!

Du hast vollkommen recht, denn die ersten ca. 100 Fundbelege wurden auch als "mesolithisch" eingeschätzt und in den Fundakten der zuständigen Außenstelle aufgenommen. Es fehlten aber insbesondere klar anzusprechende und datierende mikrolithische Formen. Man darf nie vergessen, dass es sehr unterschiedliche Kompetenzen an den aufnehmenden Stellen gibt und schief geht es insbesondere wenn dort Studenten der ersten Semester die Arbeit verrichten. Das ist alles eine vages "Inaugenscheinnehmen". Spanend wird es erst, wenn sich dann die entsprechenden Facharchäologen mit tiefreichenden Erfahrungen der Funde annahmen.

2015 hatte ich denn wiederholt flächendeckene hoch intensive systematische Prospektionen ausgeführt um endlich die fehlendne Mikrolithen finden zu können. Dabei tauchten dann aber, vollkommend überraschend, zahlreiche Stichel und eine merkwürdige und in den mesolithischen Inventaren des rechten NIederrheins so nicht vertretene Variante "kurzer Kratzer" auf. Dazu fanden sich zwei Belege von klassischen Federmessern und ein gestieltes Federmesser.

Das Fundinventar wurde dann M. Heinen, Prof. Dr.  M. Baales und D. Szya vorgelegt und vollständig dem späten Neolithikum und darin der "Federmesserkultur" zugeordnet.

Die Publikation "Der Federmesser-Horizont am Niederrhein und im angrenzenden Mittelgebirgsraum – Regionale und interne Organisation" ist gerade erst in diesem Jahr erschienen und dieser Platz nimmt durch seine rechtsrheinische Lage sogar eine wichtige Mittlerstellung in Ausrichtung auf die Hellwegzone in Richtung Westfalen ein.

Die Grundformgewinnung steht der des folgenden frühen Mesolithiums sehr nahe. Die Menschen mussten auf ihrem Weg aus Westfalen an den Niederrhein eine weite Fläche ohne Silexrohgesteinquellen überqueren. Nahe des Fundplatzes konnte sie sich erstmalig wieder bei Ratingen mit obertägig frei erodierten nordischen Silexstücken in heute noch sehr guter Bearbeitungsqualität versorgen. Knollen von dort haben sie dann auch als Vorräte auf den Platz eingetragen. Die Rohstücke wurden sehr weit abgearbeitet um das wertvolle Material optimal nutzen zu können. Es ist ja auch überhaupt nicht verwunderlich, dass es Überganshorizonte und Übergangsphänomene aus dieser Zeit zum Mesolithikum hin gegeben hat. Das fürhe Mesolithikum ist die unmittelbar anschließende Kuturfolge.


Im späten Paläolithikum im Rheinland gibt es zwei Tendenzen. Einmal eine auch erst jüngst ergrabene "long-blade"-Tradition, die erstaunliche Klingenformate überliefern die obertägig ohne jeden Zweifel als neolithisch eingeschätzt worden wären, versus einer progressiven mikrolithischen Tendenz, die bereits das frühe Mesolithikum vorbereitet. Dem letzteren Phänomen gehört der Platz mit den gezeigten Funden an.


Die Variabilität der Patinierung, von pozellanartig weiss, fleckig blau-weißlich  bis zu unpatiniert hat ihre Hintergründe in Fragen des verwendeten Materials und im Wesentlichen im Bereich der Einlagerungs- und der Lagerungsbedingungen. Lagen die Funde noch längerer Zeit an der Obefläche, waren sie anderen Einflüssen ausgesetzt als Stücke die in Befunden abgedeckt tund eingelagert geschützt zurück blieben, wurden schon patinierte Knollen verwendet oder stammen die Grundforemn aus tiefer freigelegten inneren Teilsütcken von Geschiebeknollen usw. Das sind Phänomene der individuellen Überlieferungsgeschichte und Überlieferungsbedingungen jedes einzelnen Artefakts.

Der Fundplatz kann auch  nur ein Teilausschnitt eines viel umfangreicheren Sielungsgeschenes überliefern. Er liegt auf einem erodierten und noch bis heute gegenüber dem Umland hüher gelegenen Plateau, in heute 120 m Entfernung zu einem wasserreichen Wasserlauf innerhalb iener Auenlandschaft entlang einer Geländerinne.

Das ist sicher einer der spannenderen Fundplätze für die im Rheinland jetzt mit 80 gesicherten Fundplatzen nachgewiesenen Zeithorizont des ausgehenden Altsteinzeit.

glG Thomas  :winke:


PS:im Anhang Bilder von Grabungsfunden eines Aufenthaltsortes der spätpaläolithischen "long-blade-industry" mit vollkommemn UNPATINIERTEN Grundformen.
Der auf den Bildern mit eingestellte Maßstab beträgt 5 cm.

Das wären aus Oberflächenlesefunden beste jungneolithische Klingenformen, dazu noch aus demselben Maasfeuerstein wie die Produkte der jungneolithischen Klingenindustrie! Ohne jede Patinierung
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.

Danske

Lieber Thomas,

vielen Dank für die ausführlichen Informationen.

Das sind eindrucksvolle Klingen, die du da zeigst.

Einzelfunde sagen zunächst nicht viel über einen Platz aus. Erst die Prospektion über einen längeren Zeitraum führt zu klareren Aussagen. Und man darf dabei den Gesamtkontext innerhalb eines Gebietes nicht aus den Augen verlieren.

Liebe Grüße
Holger :winke:
Et nunc reges intelligite, erudimini, qui judicatis terram.

thovalo

Zitat von: Danske in 19. September 2019, 07:44:36
Lieber Thomas,

vielen Dank für die ausführlichen Informationen.

Das sind eindrucksvolle Klingen, die du da zeigst.

Einzelfunde sagen zunächst nicht viel über einen Platz aus. Erst die Prospektion über einen längeren Zeitraum führt zu klareren Aussagen. Und man darf dabei den Gesamtkontext innerhalb eines Gebietes nicht aus den Augen verlieren.

Liebe Grüße
Holger :winke:


GENAU SO ist es!  :winke:
Darin besteht der Fortschritt der Welt, daß jede ältere Generation von der Jugend behauptet, sie tauge nichts mehr.