Gibt es im Rheinischen Neolithikum Meißel?

Begonnen von rolfpeter, 16. Februar 2008, 09:53:57

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rolfpeter

Servus,

was ist das?
Es stammt von einer jungneolithischen Stelle, die sehr "Rijckholt-lastig" ist. Prinzipiell handelt es sich um ein proximales Klingenbruchstück mit einer Endretusche. Der Schlagflächenrest ist vollkommen entfernt und das Proximalende ist zu einer scharfen Schneide hergerichtet.
Bruchstück eines Meißelchens? ...eines Mini-Beil-Halbfabrikats?....eines Beitels?....einer Dechselklinge?
Vielleicht könnt ihr die Antwort rausfinden?

Die Fotos:




Herzliche Grüße
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

wühlmaus

Hi RP  :winke:

Meine Freundin hat unsere Kamera mit auf die Arbeit genommen ... da liegt sie nun seit etwa einer Woche ... und wird immer wieder vergessen.  :wuetend:

Deshalb kann ich leider keine Bilder liefern ...

Aber ein Literatur Zitat:

J. Brandt; Archäologische Funde und Denkmäler des Rheinlandes; Bd 4; ebendort Tafel 104 Nr.2 und Tafel 109 Nr. 1

Tafel 104 Nr. 2 zeigt ein extrem schmales, vollkommen überschliffenes "Beil" aus Garzweiler. Die Form legt eher die Verwendung als Meißel nahe ...

Tafel 109 Nr 1 kommt deinem Fund sehr nahe: Hier wurde ein - ehemals normal breites? - Flintbeil nachträglich extrem schmal retuschiert, so daß ein Meißel entstand. Fundort ist Bedburdyck.

Zeitlich würden beide Funde passen ...

:winke:
Gerd

rolfpeter

Herzlichen Dank Gerd,
wenn dann die Knipse nochmal auftauchen sollte, biste bitte so nett und schiebst die Fotos noch nach?
Beste Grüße
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

wühlmaus


Khamsin

Salaam!

Wenn sich mein Blick in Richtung Rotes Meer in der Ferne verliert (ohne jenes tatsächlich zu erreichen), erinnere ich mich der Feststellung von Albert Einstein:
"Die Tiefe des Denkens gedeiht nicht in der Geschäftigkeit!". Was wäre dem noch hinzuzufügen?

Nun, RP - na klar - hat uns mit einer interessanten Frage konfrontiert, und da ich mich - in´sch Allah - wahrlich nicht in der Geschäftigkeit aufhalte, habe ich ein wenig nachgedacht. Hier das Ergebnis:

Hätte die Frage gelautet: "Gab es im Rheinischen Neolithikum Meissel?", müsste die Antwort unbedingt "JA" lauten. Wobei uns allen klar sein sollte, dass mit "Meissel" tatsächlich und terminologisch korrekt "Beitel" gemeint ist, ein Gerät für stemmende Holzarbeit.

Fragt man sich indes nach den archäologischen Belegen für neolithische Beitel (u.a. im Rheinland), dann ist die Sachlage bei weitem nicht klar. Das liegt mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit daran, dass die überwältigende Mehrheit der Beitel aus organischem Material, und zwar dort wieder in aller erster Linie aus Knochen, und hier letztlich erschlagend aus Metapodien (Mittelhand- und Mittelfussknochen von Säugern) bestanden haben wird. Die sind natürlich alle vergangen.

Nun wurde die Frage ja an einem Flintartefakt festgemacht, und da sind wir auf einem mehr als spannenden Terrain! Eigentlich hätte also die Frage lauten sollen: "Gibt es...Flintmeissel?" bzw. "Gibt es...Meissel aus Kieselgestein?".

Bevor wir uns damit näher auseinandersetzen, sollten wir uns zuerst einmal fragen, weshalb von "Meissel" die Rede ist. Denn irgendetwas in Verbindung mit dem Fund muss ja unseren RP veranlasst haben, an "Meissel/Beitel" zu denken. Versucht man, dieses "irgendetwas" zu erschliessen, dann geht das am besten über die Funktion eines Beitels und daraus resultierende Formmerkmale.

Beitel dienen in erster Linie zum Ausstemmen von Löchern, Aussparungen etc. Sie verfügen immer über eine scharfe Schneide und zeichnen sich, funktionsbedingt, durch eine mehr oder weniger "langschmale" Form aus. Am Nacken sollten sie, da dort die kinetische Energie des unbedingt notwendigen Schlagwerkzeuges ansetzt, wie auch immer stumpf sein.

Übrigens gibt es nach meiner Kenntnis für Beitel keine verbindliche Definition bei den Archäologen. Hier könnte man sich etwa an die Definition für "Klinge" anlehnen und sagen, dass ein Beitel auf jeden Fall annähernd parallele Längskanten und - in diesem speziellen Fall - mindest drei- oder viermal so lang sein sollte, wie die Breite beträgt. Das ist aber aus dem hohlen Bauch gesprochen!

Zurück zu RPs Fund: Der ist zweifellos langschmal und am Nacken gebrochen. Und die Schneide ist unverkennbar, obgleich noch nicht geschliffen, aber das ist eben der Zustand. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus naheliegend, nach Steinbeiteln zu fragen.

Mit dem "Meissel-/Beitelproblem" sahen sich auch schon frühere rheinische Archäologen konfrontiert, wie man mit einem zwanglosen Blick in die Arbeit von Gudrun Loewe, Kreis Kempen-Krefeld, Arch. Funde und Denkmäler des Rheinlandes 3 am Beispiel des berühmten jung-/endneolithischen Hortfundes von Lobberich festellen kann. Dort werden drei "Meissel" aus Flint genannt. Das vollständige Zitat kann ich hier nicht liefern mangels Literatur!

Nun wäre der Fragesteller nicht unser RP, wenn er nicht neben "Meißelchen?, Mini-Beil-Halbfabrikat? und  Beitel?" auch "Dechselklinge?" erwähnt hätte!

Diese Gerätegruppe wurde von RPs "Ampf" im Jahre 1999 erstmals zusammenfassend den Archäologen vorgestellt. Und wenn man sich daraufhin den Fund anschaut, dann geben gleich mehrere Merkmale in dieser Richtung zu denken.
So fällt z.B. bei der Seitenansicht auf, dass das Stück dorsal längs gewölbt ist, was vermutlich noch stärker der Fall war, aber leider im gebrochenen Zustand nicht mehr so deutlich wird.
Auch spricht die Positionierung der Schneide am Proximalende der Klinge nicht gegen eine Dechselklinge; sowas hat J.W. beschrieben.
Und schliesslich fällt die Schneidenbreite mit rd. 30 mm durchaus in die Bandbreite der "Dechselklingen aus Feuersteingrundformen".
Last but not least stammt das Stück von einer jungneolithischen Fundstelle, auf der man diese Artefaktklasse erwarten darf.

Vor diesem Hintergrund würde es mich nicht wundern, wenn der Ampf bei Sichtung des Stückes für eine Dechselklinge votieren würde.

Ach ja: Dass es keine oder nur äusserst seltene und zudem fragliche "Flintmeissel" im Rheinischen Neolithikum gibt, darf nicht weiter wundern. Denn, im Gegensatz zur Herstellung entsprechender Formen aus Knochen, ist die Anfertigung von Steinbeiteln ausgesprochen aufwändig und war schlicht nicht nötig.
Ein besonders schöner Knochenbeitel stammt aus Müddersheim und datiert in die LBK (bei Fiedler abgebildet).
Gegen dieses ökonomische Prinzip spricht übrigens auch nicht die Existenz ausgesprochen aufwändig hergestellter Flintbeitel in Skandinavien, wie uns agersoe sie sicher näher bringen könnte. Darunter sind sogar langgewölbte Exemplare, und man fragt sich, wie diese Prachtstücke sinnvoll eingesetzt worden sein sollen, bedenkt man die dazu notwendigen Schläge auf den Nacken...

Dass es zahlreiche durch Reparaturarbeiten schmalretuschierte veritable Flintbeilklingen im Rheinland gibt, ist unbestritten. Dabei handelt es sich jedoch um Sonderfälle, die die Existenz von Flintbeiteln nicht stützen. Das Motto dürfte dabei gewesen sein: Lieber eine deutlich schmalere Beilklinge, als gar keine!

Schala gaschle KIS 
























 

"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"

rolfpeter

Servus Khamsin,

Zitat von: Khamsin in 16. Februar 2008, 19:19:52

Hätte die Frage gelautet: "Gab es im Rheinischen Neolithikum Meissel?", müsste die Antwort unbedingt "JA" lauten. Wobei uns allen klar sein sollte, dass mit "Meissel" tatsächlich und terminologisch korrekt "Beitel" gemeint ist, ein Gerät für stemmende Holzarbeit.


Ich gebe ja freimütig zu, ab und an etwas schlampig zu formulieren aber Du hast ja trotzdem erkannt, worauf es mir ankam.  :zwinker:
Dann werde ich es als "Bruchstück einer Vorarbeit zu einer Dechselklinge" ablegen. Wenn's so ist, dann war die Grundform und damit das Halbfabrikat vermutlich länger und wie bei den großen Rijckholt-Klingen nicht unüblich, mehr oder weniger stark gebogen. Das würde die Definition als  Beitel oder Meißel ausschließen.

Vielen Dank für die ausführliche Besprechung, haben wir wieder was gelernt!

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Khamsin

Salaam!

O nein RP, das war nicht schlampig, Du hast ja ein grösseres Spektrum offengelassen.
Die Frage ist doch, ob der Bruch "grubberfrisch" ist oder alt. Sollte Ersteres zutreffen, dann können wir uns ja irgendwann auf das Nackenbruchstück freuen, bei Deinem Finderglück...
Bin mal gespannt, was Dein Ampf dazu sagt.

Sandige Grüsse und schala gaschle KIS
 
"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"