Erntemesser?

Begonnen von rolfpeter, 18. August 2008, 10:13:07

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rolfpeter

Servus Freunde,

hier ist eine MK-zeitliche Feuersteinklinge, hergestellt aus Rijckholt-Flint. Die Länge beträgt 90mm, sie war auch niemals länger, denn am Distalende befinden sich Rindenreste. Es ist ja eigentlich keine Schönheit, das Dingen, aber es ist doch vielleicht ein Teil eins Komposit-Gerätes.
Die eine Längsseite, auf dem ersten Foto die obere, ist intentionell stumpf gemacht worden. Die andere Lateralseite, also die mit dem von der Spitze bis zur Mitte konkaven Kantenverlauf ist von Natur aus sehr scharfkantig und flach. In diesem konkaven Bereich erkennt man feine "Perlretuschen" mit leichtem Sichelglanz. Vermutlich sind das Arbeitsretuschen, die erst durch die schneidende Tätigkeit hervorgerufen wurden. Die Spitze am distalen Ende ist auf der Dorsalseite auch leicht glänzend.
Die Form des Stückes würde sich zu einer Schäftung eignen. Die Ausprägung der Spitze als "Hakenmesser" mit integriertem Halmfänger könnte eine Einordnung des Gerätes als Erntemesser denkbar erscheinen lassen.... mal ganz nebulös ausgedrückt. Was mein ihr? Ist an der Hypothese was wahres dran?









HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Silex

Also es sei vorausgeschickt: bei Erntemessern trau ich mir selber nicht über den Weg.
Ob die mehr schnitten als rupften...wie die Funktionskantenbeschaffenheit definiert wird...vorkommende  durchschnittliche Längen und Breiten, Materialvorlieben...etc.
Mit meiner Oma hab ich als Kind noch vorgeschichtlich gesichelt...
Vom Gefühl her würde ich , bei einem Gerät dieser relativen Länge, die  Sichelschneide  und den Schäftungsbereich genau umgekehrt zu Deiner Mutmaßung annehmen.
Dass also die "garbeneinholende",  obere Seite  (auf dem ersten Bild) zum Schneiden benutzt wurde.
Ist die wirklich stumpf, RP?

(oder  hab ich Dich missverstanden? Zitat RP:"Die eine Längsseite, auf dem ersten Foto die obere, ist intentionell stumpf gemacht worden")
Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.

rolfpeter

Ich werde schlampig! Es ist die untere Seite auf dem ersten Bild, die stumpf ist. Die sieht man auch auf dem 3. Bild.
Das 2. Bild stellt die scharfe, glänzende Partie dar, das 4.Bild auch.
HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Silex

Wenn kompositlich  dann ganz vorne - oder?
Als eigenständiges  Gerät mit Schäftung  (und Sichelglanz)  gesehen kann ich mir keine knicklich, konkave  Nutzung vorstellen.
Wie immer :Sichelglanzblind
Edi
Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.

rolfpeter

Zitat von: Silex in 19. August 2008, 22:14:29

Wie immer :Sichelglanzblind


Bist nicht blind, mein Alter! Der Glanz ist auf dem Bild nicht zu erkennen, dennoch ist er vorhanden. Er ist auch lange nicht so stark ausgeprägt wie bei den LBK-Erntemessereinsätzen.
HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Khamsin

Moin Jungs!

O ja, fast übersehen, der Sichelglanz!

"Mit meiner Oma hab ich als Kind noch vorgeschichtlich gesichelt..."

Diese sympathisch-nostalgische Vorstellung kann sich durchaus einstellen bei der Erinnerung an die Arbeit mit einer modernen Sichel, z.B. beim Grasschneiden in kleineren Mengen. Freilich trifft sie insofern nicht zu, als die Arbeit mit einer modernen Sichel nichts mit der Handhabung der neolithischen, Multi- oder Mono-Flintschneiden besetzten Kompositgeräte gemein hat. Die einzige Verbindung Letzterer mit Ersteren besteht in der einheitlichen Bezeichnung "Sichel", aber die vollständigen steinzeitlichen Exemplare (Schaft, Einsätze, Klebung) werden von den Archäologen nicht ohne Grund als "Erntemesser" bezeichnet werden.

Denn während moderne Sicheln mit klassischem, weitausholendem horizontalen Schwung geführt werden, war dies bei den urgeschichtlichen Stücken konstruktionsbedingt nicht möglich. Das leuchtet besonders bei den mitteleuropäischen alt- und mittelneolithischen Exemplaren ein, die keinen einheitlich glatten, sondern einen gezackten Verlauf der "Gesamtschneide" aufgewiesen haben müssen. Müssen deshalb, weil die Glanzspuren auf den sog. Sichelglänzen dieser Zeit regelhaft diagonal und nicht kantenparallel verlaufen. Bitte jetzt keine Ausnahmen kantenparalleler Sichelglanzbeispiele nennen; dass es die gibt, ist unbestritten, aber eben nicht die Regel.

Der Sichelglanz ist im übrigen kein Residuum, d.h. keine eingetrocknete Ablagerung auf den Artefakten, sondern eine veritable Abrasion, d.h. Verrundung der Kanten und Glättung Oberflächen! Bei allgemeiner Härte des Flints von 7 gibt das zu denken und kann nur als Indiz für die Benutzungsdauer interpretiert werden. U.a. französische Ernteexperimente (Getreide) haben gezeigt, dass sich erster Sichelglanz nach rd. 1,5 Std. Arbeit bildet. Verantwortlich dafür sind winzigste sog. Opalphytolite in den Pflanzenstängeln (Getreide, Schilf), die beim Schneiden an den Graten, Kanten und Oberflächen der Einsätze kratzen und auf Dauer zum Glanz führen (Wer hat sich nicht als Kind beim Rohrkolbensammeln schon einmal an einem Schilfblatt geschnitten!).

Die unregelmässige Längskante an RPs Fund ist ein schönes Beispiel für eine Schäftungsretuschierung, die lediglich dazu diente, das Stück in den Schäftungsschlitz im Griff des Erntemessers (aus Holz oder Geweih) einsetzen zu können. Neben der sog. Handhabungsretuschierung übrigens ein weiteres Beispiel für eine zugerichtete Kante, die nicht der eigentlichen Zweckbestimmung des Stückes, dem Schneiden, dient!

Übrigens: Wenn ich hier "...retuschierung" und nicht "...retusche" benutze, so hat das einen guten Grund. Einer der Vordenker der deutschen Archäologen, Prof. Dr. K.J. Narr, ehemals Ordinarius am Inst. UFG Münster, hat sich dazu schon vor vielen Jahren geäussert. Eine terminologische Petitesse, gewiss, aber trotzdem bedenkenswert: "Retusche" bezieht sich auf ein einziges Negativ, während "Retuschierung" die Modifikation von Kanten und/oder Flächen meint.

Zu Sichelglänzen und urgeschichtlichen Erntemessern gibt es erstaunlich wenig Spezialliteratur. Das wird sich aber spätestens mit dem Erscheinen des lange erwarteten Buches "Steinartefakte vom Altpaläolithikum bis zur Neuzeit (Tübingen)" ändern. Darin wird es einen sehr, sehr umfangreichen, d.h. detaillierten Beitrag über neolithische Steingeräte geben, der mir seit einigen Jahren als MS vorliegt. Nach der Lektüre bleiben m.E. keine Fragen mehr offen; ein absolutes Muss für alle Stonies... Aber in diesem Jahr soll es ja soweit sein.

Herzliche Grüsse KIS
"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"