Kratzer oder mehr?

Begonnen von rolfpeter, 01. Dezember 2009, 08:03:16

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rolfpeter

Servus,

dieses Teil stammt von einer MK-Stelle.
Zuerst dachte ich, es handelt sich um einen der in Michelsberger Zusammenhang üblichen relativ großen Abschlagkratzer. Nach Reinigung und näherer Betrachtung stellen sich aber gewisse Zweifel ein.

Grundform ist wahrscheinlich kein Abschlag, sondern eine große Klinge. Wenn man sich die Dorsalseite genauer ansieht, fällt auf, daß nur 2 Negative eine glatte Oberfläche haben und alle anderen stark von Wallnerlinien überprägt sind. Die glatten Flächen werden von der Grundform stammen, die übrigen sind nachher produziert worden - ich nehme an, um die Dicke des Stücks zu reduzieren.
Das Artefakt ist, bis auf den direkten Proximalbereich rundum retuschiert. Bedingt durch die Grundform und das beabsichtigte Endergebnis ist die Retusche auf der dickeren Lateralkante steiler als auf der Seite mit der dünneren Kante.

Das Material ist ein typischer Rijckholt-Flint. Wer das Zeugs näher kennt weiß, daß frisch geschlagene Klingen meist nicht besonders stark glänzen.
Beim vorgestellten Stück ist das anders. Die Grate glänzen und auch Teile der übrigen Dorsalflächen. Die Ventralfläche glänzt besonders auf der dünneren Seite. Es ist nicht der spiegelnde Glanz, wie man ihn von Erntemessereinsätzen kennt, sondern eine ausgeprägte "Seidenmattierung".
Die Lateralkante auf der dünneren Seite ist nicht so scharf wie frisch retuschiert, beim Befühlen mit dem Finger bemerkt man eine Verrundung - Gebrauchsspuren.

Benutze Kratzerkappen erkennt man meist durch feine Ausbrüche an der Schneide. Die sind hier aber nur auf der flachen Seite bis zum Scheitelpunkt der Endretusche vorhanden.

Fazit:
es scheint sich bei dem Fund nicht um einen Kratzer, sondern um ein quergeschäftetes Messer, ein sogenanntes Pfahlbaumesser zu handeln.

Was meint ihr? Ist was dran an meiner These?

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

chmoellmann

Für einen "normalen" Kratzer gehen die Retuschen doch sehr weit rum, oder? Da würde ich auch auf eine eher schneidende Tätigkeit schließen.

fuchs

Ich finde es bewundernswert, wie du "den Stein lesen" kannst. :glotz: Das ist wirklich hohe Kunst!

Silex

Das ist wirklich interessant "gelesen" und geschrieben ...man sollte sich das direkt angewöhnen...weil es zum Lernen, Verstehn und der Präzision dient.
Ein außergewöhnliches Fundstück, RP!
Als Neolithiklaie ist mir der Kratzer jedoch zu schön und dominant....um trotz der dafür fehlenden, typischen Gebrauchsspuren  ...."diesen" leugnen zu können. Wenns einer war dann aber mit Kombifunktion als Sägeschneider).

Bis bald,
Edi
Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.

rolfpeter

Bei meinem Geschreibsel habe ich mich falsch ausgedrückt!  :friede:
Ein Pfahlbaumesser ist natürlich nicht quer- sondern längsgeschäftet.

Hier ist mal ein Bild, damit sich auch alle was drunter vorstellen können.


Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

chmoellmann

Dann macht doch eine Retusche auf der Schäftungsseite keinen Sinn, oder? Und wenn, dann sollte es ein abgedrückter Rücken sein wie bei Rückenmessern. Macht für mich eher den Eindruck, als ob es freistehend genutzt wurde - bzw. an der Schmalseite geschäftet war.

rolfpeter

Zitat von: chmoellmann in 01. Dezember 2009, 20:51:36
Dann macht doch eine Retusche auf der Schäftungsseite keinen Sinn, oder? Und wenn, dann sollte es ein abgedrückter Rücken sein wie bei Rückenmessern. Macht für mich eher den Eindruck, als ob es freistehend genutzt wurde - bzw. an der Schmalseite geschäftet war.

Nach meiner Kenntnis sind die sog. Pfahlbaumesser häufig auch auf der Schäftungsseite retuschiert. Könnte mir denken, daß die Jungs die Klinge in den Schaft eingepaßt haben.
Das ist übrigens auch oft bei den kleinen alt- bis mittelneolithischen Erntemessereinsätzen so.

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

queque

Hallo RP, also wenn es bei mir aufgetaucht wäre, hätte ich es auch unter Kratzer abgelegt. Allerdings unter "sehr, sehr schöner Kartzer". Die "Kappenpartie" ist geradzu bilderbuchmäßig. Irritierend ist die Rundumretusche. Ich habe ein ganz ähnliches Teil, bei dem leider der Pflug die linke Seite zerlegt hat, so dass man über mögliche Retuschierungen nichts mehr sagen kann. Mal eine wahrscheinlich ganz dämliche Frage: Kennst du denn Pfahlbaumesserfunde aus unserer Rheinischen Fundregion? Nicht, dass ich Deinem hochgeschätzen Urteil nicht trauen würde, aber mir ist so etwas weder in der Literatur noch in der Praxis in unseren Breitengraden bisher untergekommen. Zumindest den Begriff kenne ich eher aus südlicheren Gefilden. Aber ich bin halt auch nur eine Staubkorn im tränenden Auge der Zeit und vor allem fehlbar.
:winke:
Bastl

Der Wikinger

Hallo RP !  :-)

Obwohl ich ja geographisch ein bisschen weit weg vom Fund bin, möchte ich aber gern ein paar Aussagen kommentieren.

1.
Ich denke, dass es sich um einen (Korrektur-)Abschlag eines Kerns handelt.
Es lässt sich bei der geringen Grösse des Fundes nicht machen, dass man nachher die Dicke verkleinert durch zusätzlichen Abschläge.
Die wurden ganz sicher vorher gemacht, also "als das Ding noch ein Teil eines Kerns" war.

2.
Der Fund ähnelt in gewisser Weise die bei uns bekannten Bogenmesser (buekniv) aus dem spätmesolithischen Erteböllekultur. Die wurden aber bei uns auf Grund von reichlichem Material fast nie geschärft, sondern man machte einfach ein neues, weil genug Flint vorhanden war. Fest steht nähmlich, dass frischer Flint immer das schärftste ist. Eine schärfung dagegen wäre meiner Meinung nach wesentlich präziser und filigraner zu machen, wenn eine ordentliche Schärfe zu erreichen wäre. Das sehe ich nicht auf den Bildern.

3.
Die Datierung würde ich als spät-mittelneolithisch bis endneolithisch sehen. Eine Vollkantretuschierung kennzeichnet ganz spezifisch diese Periode (gab auch welche im Paläolithikum), und die Herstellungsweise, wo man eine Symmetrie der Kanten und des ganzen Gerätes anstrebte, deutet ebenfalls klar auf Spätneolithikum hin.


Ich plädiere also für: Vollkantretuschierter, neolithischer Kratzer aus einem Kernabschlag.


Nur mein bescheidener Senf dazu !  :winke:

rolfpeter

#9
@ Steen

Richtig!
Ein Korrekturabschlag vom Klingenkern, das könnte hinkommen!

Beim Pfahlbaumesser bleibe ich aber! Und zwar weil - wie weiter oben beschrieben - die Kratzerschneide auf der "dicken" Seite pfuschneu ist.
Ich habe auch geschrieben, oder versucht auszudrücken, daß lateralseitig die Schneide ein wenig abgerundet ist. Man merkt das, wenn man mit dem Fingerchen drüberfühlt, der gleiche Effekt wie bei hiesigen Sicheleinsätzen.

Die Datierung ist eindeutig MK, also "Rheinisches" Jungneolithikum...4300 bis 3500 v. Chr.

@ queque

Ja kenn ich, ist aber noch nicht veröffentlicht.

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

queque

@ RP: Sag' mir doch bitte Bescheid, wenn's so weit ist.
Dank und Gruß
Bastl

Khamsin

Moin!

Manchmal, liebe Mitleider, -streiter und Freunde, manchmal lohnt sich sogar ein Blick in die "Mannus-Bücherei", eine Reihe, herausgegeben vom Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte, hier den Band 66 aus dem Unheilsjahr 1939. Es ist das Werk

"Die Feuersteingeräte der Pfahlbaukultur" von R. Ströbel.

Ich will hier gar nicht näher auf die teilweise putzigen Bezeichnungen der Typklassen eingehen. Ich nehme dieses Werk - besser gesagt, dessen Tafelteil - allerdings gerne zur Hand, weil man schnellen Blickes erstaunliche Informationen zur Flintartefakten, deren Formen, und auch und gerade deren Schäftung erhält, denn das seinerzeit als "Erdpech" bezeichnete, an manchen Stücken haftende Birkenpech wird auf den zeichnungen immer lagegetreu abgebildet und tiefschwarz markiert.

Da gibt es z.B. die Tafel 8, auf der Stück 4, ein typologisch reiner Klingenkratzer, abgebildet ist, der stolz seine leicht asymmetrische Kratzerkappe nach oben reckt, wobei die linke Längsseite dorsal randlich über ihre gesamte Länge retuschiert ist!

Wirklich blöde ist nur daran - jedenfalls für Vertreter der rein typologischen Lehre - dass auf der linken (Ventral-)Ansicht des guten Stückes die gesamte linke Seite in Längsrichtung ziemlich flächendeckend verdammt schwarz markiert ist, und auf der rechten (Dorsal-)Ansicht auf der gesamten rechten Seite in Längsrichtung sich eine vergleichbare, wenngleich auch punktförmig verteilte Signatur für Birkenpech findet. Ganz wichtig ist hierbei, deshalb auch der Hinweis auf dieses Stück, dass mindestens ein Drittel der Kratzerkappennegative von Birkenpech verdeckt ist.

Nach allem, was wir nun wissen, war das Artefakt in Längsrichtung in einem Schäftungsschlitz eines sog. Pfahlbaumessers mittels Birkenpech arretiert, und zwar so, dass eine Längshälfte, nämlich jene mit der Lateralretuschierung (nach meinem terminologischen Verständnis eben eine Retuschierung!!! und keine Lateralretusche) aus dem Schaft herausragte.

Die Funktion dieser sog. Pfahlbaumesser, von denen RP ja eine schöne Nachbildung hier eingestellt hat (von wem ist die denn, RP? Ich frage, weil ich schon Dutzende davon gemacht habe...), ist nach meiner Kenntnis übrigens erst seit den frühen 1990ern geklärt. Wieso?

Ganz einfach, weil da ein kleiner, aber feiner Artikel auf Französisch von

P. Anderson, H. Plisson und D. Ramseyer in Archäologie der Schweiz 15, 1992, 60-67

erschienen ist. Und dort kann man nun nachlesen, dass die Gebrauchsspurenanalysen von Hughes Plisson an entsprechenden "Kratzern", die in solchen Messern geschäftet waren, ergeben haben, dass die Messer tatsächlich als Erntemesser eingesetzt worden sind!

Ach ja, bevor ich das noch vergesse: Viele Jahrzehnte hielt sich hartnäckige die Meinung, dass das Griffmaterial jener Pfahlbaumesser, nahezu in allen Fällen makroskopisch immer das gleiche, Eibenholz sei. Schliesslich stellte sich dann doch heraus (vgl. das schöne von RP eingestellte Bild!), dass es sich um die Rinde von Populus nigra, der Schwarzpappel handelt.
Und wer einmal die Rinde eines maturen Exemplares gesehen,k besonders aber verarbeitet hat (wie ich seit vielen Jahren), der weiss, dass man daraus die "schönsten Griffe aller Zeiten" mit dem geringsten Aufwand herstellen kann.

So gerne ich also Steen im Hinblick auf die Grundform "Korrekturabschlag" zustimme, so bestimmt schliesse ich mich unserem RP im Hinblick auf die Funktionsansprache "(Pfahlbau-)Messer" seines Fundes an.

Freilich: Damit soll nicht gesagt sein, dass dieses Stück ebenfalls als Erntemesser benutzt worden sein muss. Ich würde vielmehr sagen, dass es als Messer verwendet wurde, wobei dessen genaue Funktion - erst recht vor dem Hintergrund ertastbarer Abnutzungsspuren - verlässlich erst durch eine nat.wiss. Analyse geklärt werden kann.

Last but not least: Natürlich stimmt es, wenn unser Steen sagt, dass gebrochene, unretuschierte Kanten am schärfsten sind! Wer freilich eine solche Klinge zum Schneiden praktisch benutzt hat, wird auch bestätigen, dass sie, aus eben genau jenem Grunde, nämlich wegen ihrer bis in den molekularen Bereich hinein gebrochenen und deshalb tierisch dünnen und wahnsinnig scharfen Kante, sehr, sehr schnell ausbricht, mit anderen Worten schartig und unbrauchbar wird.

Darauf sind auch schon unsere Stone Age Brethren gekommen und haben aus der Not eine Tugend gemacht. Damit will ich sagen, dass man eine gewisse Herabsetzung der Schärfe durch Retuschierung zu Gunsten einer erheblich länger standfesten Schneidenkante billigend in Kauf genommen hat.
Vor diesem Hintergrund muss man dann jedes Fundstück sehr genau betrachten und dann seine Schlüsse ziehen, so, wie es unser RP mit seiner bemerkenswerten Messerklinge in Form eines Kratzers getan hat.

HG KIS
"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"

rolfpeter

Danke Khamsin,

wenn Du jetzt noch einem neugierigen Lehrling den Unterschied zwischen Retusche und Retuschierung beibringen würdest, ja dann wäre mein Abend gerettet!

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Khamsin

Moin RP!

Ich halte mich da an keinen Geringeren als Prof. Dr. K.J. Narr, ehemaliger Ordinarius des Inst. UFG Uni Münster (mit dem ich die Freude hatte, mich in den 80ern sehr angeregt zu schreiben!).
Der verstand, wenn ich das noch richtig nachhalte, unter "Retusche" gerade mal ein Negativ und beschrieb die Summe aller Negative als Retuschierung. Ich meine jedenfalls, dass ich das seinerzeit so verstanden habe. Aber das sind natürlich Petitessen im Vergleich zu "Schuhleistenkeil" oder "Flachhacke"!!!

HG KIS
"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"

rolfpeter

Ach so, habe verstanden!

Hatte schon befürchtet, es gäbe grundsätzliche Unterschiede.

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

rolfpeter

So,

ich war heute mit dem Stein und einigen weiteren beim Jürgen Weiner.

Er hat das Stück, genau wie von uns schon vermutet, nicht als Kratzer, sondern als Messer bestimmt.

Ich habe das gesamte Material von der Stelle vorgelegt und es fanden sich sogar noch zwei weitere Kandidaten in dieser Kategotie. Die Dinger scheinen (zumindest an dieser Fundstelle) also nicht wirklich außergewöhnlich zu sein.
Formenkundlich verbindet die Geräte, daß sie aus verhältnismäßig breiten und nicht zu dicken Abschlägen oder Klingen hergestellt sind. Die Schäftungsseite ist ziemlich steil retuschiert, die Schneidenseite ist flacher retuschiert und im Verlauf bogenförmig. Gebrauchsspuren befinden sich nicht an der retuschierten Kappe, sondern an der bogenförmigen Schneide.

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert