Sicheleinsatz wie aus dem Lehrbuch

Begonnen von rolfpeter, 05. November 2008, 18:00:21

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rolfpeter

Servus Freunde,

zur Zeit gehe ich über ein abgeerntetes Maisfeld, rauf....four steps to the left....runter...four steps to the right...rauf - immer schön systematisch über den Acker, fast wie in der Tanzstunde, nur weitläufiger  :zwinker:
Es handelt sich um eine große altneolithische Siedlungsstelle, die ich im vorigem Herbst entdeckt habe. Großfunde sind dort selten, aber kleine Kratzer, Klingen, Klopfsteine usw. gibt es zahlreiche aufzulesen.
Hier ist nun ein wirklich lehrbuchtauglicher Erntemessereinsatz aus transluzidem Schotterflint. Das Klingenbruchstück ist 39mm lang und 22 mm breit. Wie man es sich bei LBK-Sicheleinsätzen wünscht, läuft eine Zone starken Glanzes diagonal aus dem Proximalbereich bis zum distalen Ende. Dieses Ende ist mit einer leicht konvexen Endretusche versehen. Wäre auf dem Stück kein Sichelglanz, könnte man es für einen kleinen Klingenkratzer halten. Die glänzende Zone war einst der Arbeitsbereich, der Rest war im Schaft eingeklebt. Auf der Oberfläche die eingeklebt war, sieht man teils schwärzliche Verkrustungen, die ich für Reste von Birkenpech halte.

Ich habe den Stein so ins Gegenlicht gedreht, daß man den Glanz deutlich erkennt.
Das dritte Foto ist eine extreme Makroabbildung, die Gesamtbreite des Bildes ist weniger als 5mm. Besonders in der Nähe des Grates wird deutlich, wie glatt der Stein poliert ist. Die Oberfläche von geschlagenem Flint ist rauher, als man denkt. Auf dem vierten Bild ist eine nicht glänzende Zone im gleichen Maßstab abgebildet.









HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

bernolef

Nicht nur der Fund wie aus dem Lehrbuch, sondern auch die Fotos. Vielen Dank, RP.

Ich weiß nicht mehr, wo ich gelesen habe, daß die Erklärung des Sichelglanzes als Ablagerung aus dem Getreide stammender Kieselsäure inzwischen angezweifelt wird. Auf Deinen Makrofotos sieht man einfach Schliff: die Schuppen abrasiert, mikroskopische Grate und Spitzen verrundet. Wer weiß Aktuelles?

Khamsin

Guten Abend!

Lehrbuch, keine Frage! Vielleicht noch zwei Anmerkungen:

1. Birkenpech: Es ist ja bekannt, dass Flintartefakte nicht selten mit kleinen Residuen überzogen sind, bei denen es sich - je nach Bodenbeschaffenheit und einlagerungsbedingungen - um Anlagerungen von Eisen- bzw. Manganoxid handelt.
Im vorliegenden Falle spricht allerdings für Birkenpech, dass die erkennbaren Spuren ausschliesslich auf den ehemals nicht exponierten, weil im Schaft sitzenden Klingenabschnitten auftauchen! Die Reste sind gross genug, um eine naturwissenschaftliche Analyse machen zu können.

2. Die Definition eines a) Kratzers bzw. einer b) Endretusche geschieht in der LBK klassisch über a´) konvex gewölbtes Ende und b´) geradliniges Ende. Mir sind jedoch intensivste Lackglänze bekannt, die mit einem nennenswert konvexen Ende ausgestattet sind, bei dem es sich - eben ausweislich eines z.T. sehr intensiven diagonalen Glanzes - um veritable Endretuschen und nicht um Kratzerkappen handeln muss!
Damit will ich sagen, dass diese Definition mit einer gewissen Vorsicht zu geniessen ist. Tatsächlich möchte ich nicht wissen, wie viele Artefakte als Kratzer aufgenomen/angesprochen worden sind, bei denen es sich in Wirklichkeit um Einsätze von Erntemessern handelt! Für mich steht schon seit Jahren fest, dass den Jungs eigentlich ziemlich egal war, ob die Enden als Endretusche, eher kratzerkappenartig oder unterschiedlich sauber gebrochen waren; hauptsache, die einzusetzenden Stücke bildeten hinterher den gewünschten Schneidenverlauf! Wieder ein schönes Beispiel für die Einteilungslust, ja -wut der Archäologen. Dagegen ist ja prinzipiell nichts einzuwenden, so lange man das nicht schematisch macht, denn dann wird aus einer LBIK-Realität ein von Archäologen gemachtes Artefakt! Dafür gibt es noch andere Beispiele. Super Bilder, RP!
 
Herzliche Grüsse KIS




"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"

rolfpeter

Zitat von: bernolef in 05. November 2008, 19:03:15
Ich weiß nicht mehr, wo ich gelesen habe, daß die Erklärung des Sichelglanzes als Ablagerung aus dem Getreide stammender Kieselsäure inzwischen angezweifelt wird. Auf Deinen Makrofotos sieht man einfach Schliff: die Schuppen abrasiert, mikroskopische Grate und Spitzen verrundet. Wer weiß Aktuelles?

Ich kenne nur die Lehrmeinung, und die sagt, daß es sich nicht um Ablagerungen von Kieselsäure handelt, sondern um abrasiven Verschleiß der Oberfläche des Feuersteines durch die im Getreidehalm eingelagerte Kieselsäure. Ist auch schon x-mal experimentell nachgewiesen worden, der Effekt stellt sich schon nach rel. kurzer Zeit ein. Es ist also einfacher Schliff, feiner Schliff, Politur.

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Khamsin

Salaam!

Bereits der Engländer Spurrell, ein Mann, der seiner Zeit weit voraus war, hat sich Ende des 19. Jh. zum "sickle gloss" geäussert. In den 30er Jahren des 20. Jh. war es dann Cecil Curwen, ein anderer Engländer, der sich erneut dieses Phänomens annahm.

Er machte Versuche mit Flintklingen, mit denen er Stroh schnitt. Schon nach recht kurzer Zeit entstand erster Glanz. M.W. wurde schon ziemlich früh erkannt, dass es sich bei dem Glanz nicht um Residuen, z.B. der geernteten Pflanzen handeln konnte, denn stärkere Verrundungen z.B. der Schneidkante sind mit blossem Auge erkennbar und ertastbar.

Tatsächlich sind es veritable Abrasionen der harten Oberfläche. Und dazu bedarf es gleichermassen harten Materiales. Dieses wiederum findet sich in Form der sog. Opalphytolite, winziger Kristalle, in den Getreidehalmen. Wer hat sich nicht schon mal als Kind an einem Schilfblatt geschnitten? Das sind ebenfalls die kleinen Kriställchen am äussersten Rand der Blätter.

Wenn also manche "Sichelklingen" extrem stark verrundet/verstumpft sind, dann lässt dies auf einen entsprechend langen/intensiven Einsatz bei der Ernte schliessen. Stumpfe Klingen wurden übrigens aus dem Schaft gezogen, umgedreht und mit dem verrundeten Abschnitt in den Schäftungsschlitz gesteckt und dort erneut mit Birkenpech eingeklebt, und fertig war die Laube! Ob das stimmt?
Na klar, denn man kennt zahlreiche "Sichelkingen" mit gegenständig diagonal verlaufenden Glanzzonen, deren Entstehung nur auf diese Weise erklärt werden kann!

Herzliche Grüsse KIS

"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"

bernolef

So ist das also. Da hatte ich wohl was in den falschen Hals gekriegt. Ein Irrtum weniger. Hier läßt sich schnell lernen, danke.

Silex

Dieser Glanz...
endlich kann ich "es" auch sehen.
Solche Funde, Fotos und Erklärungen  sind wie aus einem bisher noch nicht erschienenen Lehrbuch.

Danke
vom
Edi
Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.

Der Wikinger


Wunderbarer Fund, wunderbare Bilder, RP !!  :super:

Glückwunsch zum Fund und danke fürs zeigen !  :winke:

rolfpeter

Zitat von: Khamsin in 05. November 2008, 19:06:03

Im vorliegenden Falle spricht allerdings für Birkenpech, dass die erkennbaren Spuren ausschliesslich auf den ehemals nicht exponierten, weil im Schaft sitzenden Klingenabschnitten auftauchen!


Genau das ist die Idee, die hinter meiner Vermutung steckt!

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

bernolef

#9
Es hat mir doch keine Ruhe gelassen. Ich habe gefunden, wie ich auf die Entstehung des Sichelglanzes aus Ablagerungen gekommen bin. Anders als ich es in Erinnerung hatte scheint die ältere Erklärung durch Schliff neuerdings Konkurrenz durch die Ablagerungs-Theorie zu bekommen. Jean-Luc Piel-Desruisseaux, Outils préhistoriques, Paris 1998, 5. Auflage 2007, S. 204/205, zu neolithischen Erntemessern und Sicheln:

Kante und Seitenflächen der Silexstücke weisen einen sehr hellen Glanz auf, und es sind Untersuchungen im Gange, um die Entstehung dieser Gebrauchsspuren zu klären. Es kann sich um mechanische Abschleifung handeln, aber ebensogut um "örtliche Auflösung von Kieselsäure und Anlagerung organischer Rückstände" (M.-C. Cauvin, 1981). Tatsächlich enthalten Gräser, wie zahlreiche Pflanzen, Kieselsäure, und "es scheint, daß der Glanz beim Schneiden der Halme zum Teil durch Zufügen kleiner Mengen der Kieselsäure aus den Pflanzen auf der Oberfläche der Schneide des Geräts entsteht. Diese Kieselsäure kann sich auf der Schneide verteilen, sei es als Lösung, sei es in der festen Form von Phytolithen" (P. Anderson-Gerfaud, 1983, S. 131). Die Phytolithen, die "aus amorpher Kieselsäure bestehen, die bestimmte Zellen gefüllt oder die Zellwände von Gräsern (wie auch anderer Pflanzengruppen) überzogen hat" (P. Anderson-Gerfaud, 1982, S. 152), können "auf der Schneide auskristallisieren und sich so über Jahrtausende erhalten" (P. Anderson-Gerfaud, 1983, S. 131). Da einige Phytolithen wiedererkennbare Formen haben, konnte P. Anderson-Gerfaud die mit den Sicheln geschnittenen Pflanzenfamilien bestimmen.

Weil ich meinem Schulfranzösisch nicht ganz traue, hier auch das Original: Le bord et les faces des éléments de silex présentent un "lustre" extrèmement brillant et des études sont en cours pour déterminer la genèse de ces traces. Il peut s'agir de phénomènes mécaniques d'abrasion mais également de "dissolution localisée de la silice et d'adhésion de résidus organiques" (M.-C. Cauvin, 1981). En effet les graminées comme de nombreux végétaux contiennent de la silicie et "il semble que le poli est produit en partie par l'addition de petites quantités de la silice végétale sur la surface du tranchant de l'outil pendant qu'il découpe les tiges. Cette silice peut s'étaler sur le tranchant, soit sous forme de solution, soit sous forme consolidée de phytolithes" (P. Anderson-Gerfaud, 1983, p. 131). Les phytolithes qui "sont composées de la silice amorphe qui a rempli certaines cellules ou s'est incrustée dans les parois cellulaires des graminées (ainsi que dans certains autres groupes de plantes)" (P. Anderson-Gerfaud, 1982, p. 152), peuvent "se cristalliser sur le tranchant et se conserver ainsi pendant des milliers d'années" (P. Anderson-Gerfaud, 1983, p. 131). Comme certaines phytolithes ont une morphologie reconnaissable, cela a permis à P. Anderson-Gerfaud de déterminer des familles de plantes coupées par des faucilles.

Khamsin, der das Buch von Piel-Desruisseaux hier vor einiger Zeit als Standardwerk empfohlen hat (wenn ich mich diesmal richtig erinnere), kann uns vielleicht Näheres zur neuen Erklärung des Sichelglanzes sagen. Er weiß sicher mehr, als er uns oben ("M.W. wurde schon ziemlich früh erkannt, dass es sich bei dem Glanz nicht um Residuen, z.B. der geernteten Pflanzen handeln konnte") verraten hat.