Mein Literaturtip: Baskische Artefaktmorphologie

Begonnen von rolfpeter, 08. November 2008, 19:00:15

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

rolfpeter

Servus Freunde,

jetzt denkt ihr sicher, ich wäre vollständig ausgetickt  :narr:
Bin ich aber nur teilweise. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen messerartigen "Plattensilex Scharber" von Kelten111
http://www.sucherforum.de/index.php/topic,33233.0.html
bin ich auf eine interessante Seite im Baskenland gestoßen. Hier gibt es einige Veröffentlichungen, die man nicht übersehen sollte. Am besten gefällt mit die Reihe "Tipologia litica", eine Artefaktmorphologie von José Maria Merino Sánchez. Das ist zwar alles auf spanisch geschrieben aber mit zahlreichen Bildern illustriert. Wer schon immer mal wissen wollte, was eigentlich ein Pradnik-Messer ist und wie es aussieht, der folge bitte dem Link:
http://www.euskomedia.org/analitica/10720?op=4&primR=31&idi=en&regs=10&EIKANMAT=%22Prehistoria%22&pos=35
Rechts auf die Grafik klicken und ....speichern unter... ihr wißt schon.
Die Verbindung ist relativ langsam, aber ein wenig Geduld lohnt sich!

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Khamsin

Einen schönen Morgen!

Man ist ja immer wieder verblüfft, was das net so bietet. Habe nicht gewusst, dass "el Merino" jetzt auch auf diesem Wege - partiell - zugänglich ist. Die 510 Seiten umfassende Arbeit steht seit den mittleren 80er Jahren in meiner Bibliothek. Ich habe sie seinerzeit bestellt, weil es der einfachste Weg war, die spanischen Fachbegriffe auf einen Blick zu sehen und zu erlernen. Zu diesem Werk vielleicht noch einige Anmerkungen.

- Es handelt sich um eine wirkliche Fleissarbeit aus den 1970er Jahren, die 1980 erschienen ist, denn seinerzeit gab es in Spanien keine Übersicht dieser Art. In diesem Sinne hat sich J.M. Merino ohne Zweifel in den Augen seiner spanischen Kollegenschaft und vor allem der spanischen Studenten der UFG grosse Meriten erworben.

- Aber schon an dieser Stelle sei festgehalten, dass das Beste der Arbeit die 131 s/w Fotos auf ganzformatigen Tafeln am Ende des Werkes sind.

- Denn der - auch im net einsehbare - 2. Teil des Werkes, die alphabetische Abhandlung der Typen, ist nichts anderes, als eine Kompilation aus zahlreichen (aus spanischer Sicht ausländischen) Arbeiten, die teilweise schon Jahrzehnte vorher erschienen sind. Aus forschungsgeschichtlicher Sicht handelt es sich dabei verständlicherweise nahezu ausschliesslich um französische Arbeiten.

- Somit bietet Merinos Werk letztlich bei ausserspanischer Betrachtungssicht nichts Neues!

- Dieser Eindruck wird durch einen Blick in die relativ kurze Bibliographie gestützt. Dort finden sich zwar die meisten für die Abhandlung des Themas "wichtigen" europäischen Arbeiten, aber es fehlen andererseits auch einige, die unbedingt hätten integriert werden müssen, wie z.B. Hahn und Bosinski, Andernach, Rhein. Ausgr. 11, 1972. Das kann nicht an der Sprachkenntnis des Autors liegen, denn er hat die Mittelpaläolithischen Funde von G. Bosinski (1968) zitiert. Ebenso fehlt die in den frühen 1970er Jahren wie eine Bombe in Europa einschlagende Arbeit von M. Newcomer (seinerzeit Inst. of Archaeology, Gordon Square, London) über seine experimentellen Arbeiten zur Herstellung eines Faustkeiles!

- Ausgesprochen ärgerlich fallen in der Bibliographie zahlreiche Schreibfehler auf, was soweit geht, dass Autorennamen falsch geschrieben sind, so dass sie in einer Autorengruppe auftauchen, in die sie nicht gehören und andererseits in der richtigen Autorengruppe fehlen (z.B. eine Autorin NIZAN unter N, bei der es sich in Wirklichkeit um M.L. INIZAN, der langjährigen Lebensgefährtin und Koautorin von J. TIXIER handelt)! Wer das nicht wusste (weiss), wird bei einem eventuellen Fernleihversuch niemals Erfolg haben.

- Vor diesem Hintergrund hat mich, als ich das Buch in den mittleren 80er Jahren erhielt, nicht weiter wundern können, dass in der Bibliographie nicht eine der für die Steintechnologie so bedeutenden Arbeiten aus US-amerikanischer Feder aufgeführt ist. Gerade dies wäre aber in einer solchen Übersichtsarbeit zu dieser Zeit zu erwarten gewesen; ich erinnere hier nur an den berühmtem Aufsatz von Bordes,F. & Crabtree,D., The Corbiac Blade Technique and Other Experiments. Tebiwa, 12, 1969, 1-21!
Als ich "den Merino" seinerzeit endlich in Händen hielt, besass ich bereits - entweder im Original oder in Kopie - alle von Crabtree bis dato erschienenen Aufsätze. Wie ich daran gekommen bin? Nun, ich hatte gehört, dass jemand in der Zeitschrift TEBIWA des Idaho State Museum etwas zur Steinbearbeitung veröffentlicht hat. Also habe ich mir die Adresse dieses Museums beschafft und einen höflichen Brief geschrieben. Und rd. zwei Monate später erhielt ich einen dicken Umschlag, "courtesy of the museum´s director", mit einigen Ausgaben von TEBIWA und einigen Kopien von Aufsätzen aus vergriffenen Heften, und zwar umsonst! Wahrscheinlich hatte J.M. Merino einen leichteren Zugang zur französischen Sprache...

Wenn man sich umfassend über Steingerättypen informieren will, dann ist immer noch empfehlenswert: 1. Brézillon,M.N., La Dénomination des Objets de Pierre Taillée. !Ve supplément à Gallia Préhistoire. Paris 1971. Das kann man noch ergänzen um
2. Piel-Desruisseaux,J.-L., Outils Préhistoriques. Forme - fabrication - utilisation. Paris 1990. Wenn man dann "in Bälde" noch
3. Floss,H. (Hrsg.) Steinartefakte vom Altpaläolithikum bis zur Neuzeit (Tübingen 2008?) addiert, dann hat man alles, was das Herz begehrt.
Der Merino indes ist lediglich Forschungsgeschichte. Eine Fleissarbeit, nicht weniger, aber gewiss nicht mehr!

RP, ich hoffe, Du verstehst mich richtig! Ich finde es klasse, wenn jemand im net auf uns interessierende Literatur stösst und dies hier im Forum mitteilt. Aber es scheint mir durchaus im Sinne Aller, wenn man das dann auch kommentiert.

Herzliche Grüsse KIS     


"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"

rolfpeter

Servus Khamsin,

ich freue mich immer über Deine Kommentare, ist doch klar, die bringen uns weiter!
Allerdings sehe ich unser Forum auch als einen Treffpunkt von Leuten, die sich das Sammeln und Bestimmen von Steinartefakten als Steckenpferd gewählt haben. Wenn man sich die einzelnen Postings durchliest, erkennt man, daß alles hier auftritt, vom absoluten Anfänger bis zum akademisch gebildeten Universalgelehrten. Das macht die Arbeit im Forum interessant für alle!
Wie viele "Bestimmungsbücher", so wird auch dieses ohne Zweifel seine Mängel haben, und sind nicht alle derartigen Veröffentlichungen Kompilationen? Mir persönlich haben die ausführlichen Darstellungen über Stichel und die diversen Pfeilspitzen gefallen.
Es geht mir auch darum, Literatur für "lau" an den Leser zu bringen. Fachbücher sind meistens teuer, oft vergriffen und dann nur antiquarisch - wenn überhaupt - zu bekommen. Sogar über Fernleihe an den Uni-Bibliotheken ist nicht alles zu kriegen. Nach meiner Ansicht kann man gar nicht genug Literatur haben - und solange es nicht absoluter Ramsch ist, hilft es auch weiter.
Meine Bibeln im deutschen Text lassen auch zu wünschen übrig. Mein "Altes Testament", der Hahn, liegt mir in der Erstausgabe vor, sieht aus wie hektographiert. Ich habe mir kürzlich im Net die Inhaltsangabe der letzten Ausgabe, die auch nicht mehr erhältlich ist, angeschaut. Da ist auch allerlei hinzugekommen, was mir natürlich fehlt. Mein "Neues Testament", der Fiedler wimmelt vor Rechtschreibfehlern, da hat man sich den Lektor gespart!

Auf dem Euskomedia.org - Server liegt übrigens das komplette Werk, sogar in 2 Ausgaben, die letzte von 1994!
Wenn man hier
http://www.euskomedia.org/analitica?idi=en
"tipologia litica" als Suchbegriff eingibt, kommt eine diesbezügliche Auswahl.
Der erste Punkt dort sind die "Fotografias"
http://www.euskomedia.org/analitica/10738?op=4&primR=1&idi=en&regs=10&EIKANGEN=tipologia%20litica&pos=1
Die einzelnen Punkte dort sind wiederum Links. Man kann z.B. das subject "Prehistoria" anklicken und kommt auf alle diesbezüglichen Veröffentlichungen.

HG
RP
Der Irrtum strömt, die Wahrheit sickert

Khamsin

Yep, RP!

Gerne stimme ich Dir in allem zu! Und natürlich sind auch vergleichbare andere Arbeiten Kompilationen. Ich hätte vielleicht noch deutlicher machen sollen, dass Merinos Buch eigentlich nichts anderes ist, als der Brezillon, eben nur auf Spanisch. Und leider nicht auf der Höhe der damaligen Zeit.

Was Hahns Buch betrifft, noch dies: Ich besitze beide Ausgaben, und bereits die redaktionelle Arbeit bei der ersten ist unter aller Kanone! Bei der zweiten habe ich gehofft, Gerd Albrecht (auch ein Ex-Tübinger), der für die Redaktion verantwortlich zeichnete, habe mit einem feinen Kamm drübergearbeitet! Weit gefehlt, sie ist genauso miserabel wie die erste!

Gottlob betrifft dies aber nahezu ausschliesslich rein technische Dinge und kaum das inhaltlich Wissenschaftliche, sieht man einmal von der mutmasslichen Verwendung der Punchtechnik bei der Herstellung jungpaläolithischer Klingen ab! Ich verstehe bis heute nicht, wie Joachim "Kim" Hahn diese Idee, die er erstmals bei der Behandlung der sog. segmentförmigen Klingenkerne aus dem Magdalénien von Andernach (Rhein. Ausgr. 11, 1972) vorgestellt hat, in den späten 1980ern und frühesten 1990ern noch immer aufrecht erhalten konnte! Denn zum damaligen Zeitpunkt war den Frenchies schon lange klar, dass die Klingen natürlich direkt weich geschlagen worden sind. Und Kim sprach nicht nur bestens Französisch, sondern sass auch im Hinblick auf neueste Literatur im Inst. UFG Tübingen an der Quelle!
Ich bin gespannt, wie sich die Redaktion des Floss-Werkes darstellen wird. Es wird ja explizit als Nachfolgearbeit von Hahns Artefaktmorphologie angekündigt.

Jedenfalls ist uns hier alles recht, was auch nur im Entferntesten weiterbringen kann. Je mehr Informationen vorliegen, desto grösser ist der pool, aus dem jeder nach gusto schöpfen kann!

Herzliche Grüsse KIS 

"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"