Kratzer?

Begonnen von arriba, 02. November 2008, 20:43:45

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arriba

Hallo  :-)

Hier noch einer von heute .... an der einen  Seite ein wenig retuschiert ...

:winke: Rikke

Silex

Sehr steile Kratzerkappe und ungewöhnliche , schräge Retuschenanordnung. Aber wenn am gegenüberliegenden Ende keine Gerätefunktion  erkennbar ist...und das Ding kratzt ...dann würde ich auch auf Kratzer tippen.
Unglaublich was bei Dir alles rauskommt, Arriba.
Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.

arriba

- könnte es den vielleicht sein das sie ihn mal so (1. Bild)..... und dann mal so (2. Bild) benutzt haben?

Silex

jetzt seh ichs erst arriba....so was hab ich noch nie gesehn...2 eventuelle Kratzer an einem Ende?
Das 1. Bild zeigt jedenfalls die "sicherere" Kratzerverwendung.

Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.

arriba

- ne, ich auch nicht  :-) Ich habe es aber auch erst gesehen als ich deine Antwort gelesen hatte ... "schräge" hat mich dazu gebracht ihn mir noch mal genauer anzuschauen .....

Khamsin

#5
Salaam!

Das ist ein wirklich erstaunliches Stück; die Franzosen würden die "2. Kratzerkappe" als "outil de fortune" bezeichnen. Warum das Stück diese Form hat und dann bei der "2. Kratzerkappe" im Deutschen als "ad hoc Gerät" bezeichnet wird, das folgt hier:

- Kratzerkappe 1

Grundsätzlich ist die Ausgangsform eine Klinge. Daran besteht natürlich kein Zweifel. Aber warum hat die einen "Klumpfuss"?
Ganz einfach, der dicke distale Abschnitt ist nichts anderes, als ein Teil des distalen (unteren) Kernabschnittes oder Kernfusses. Aufgrund eines unkorrekten Abbauwinkels (Ihr erinnert Euch, das ist der Winkel zwischen der Schlagfläche und der Abbaufläche), hat die Klinge einen Teil des Kernfusses mit abgetrennt, was ursprünglich gewiss nicht gewollt war. Deshalb nennt man solche Klingen auch "Kernfussklingen". Hat es hier im Forum übrigens gelegentlich schon mal gegeben.

Dann wurde entweder an der distalen, in der Klingenebene liegenden Kante ganz zart eine klassische halbrunde Kratzerkappe retuschiert, oder die Ventralkante war bereits weitgehend halbrund, und man hat das Stück ohne weitere nennenswerte Zurichtung als Kratzer benutzt (so sieht es eigentlich aus).

Bemerkenswert sind die schon von Edi professionell, weil kühl und richtig als "ungewöhnliche, schräge Retuschenanordnung" beschriebenen lamellaren Negative (Bild 7). Sie laufen aus Richtung "Kratzerkappe 2". Fraglos können die nichts mit einer Zurichtung von Kratzerkappe 1 zu tun haben! Wie also sind die zu erklären?

M.E. sind das aber auch nicht Retuschiernegative zur Formung von Kratzerkappe 2, sondern früher am Kern angelegte Zurichtungsspuren zur richtigen Formung der Längswölbung der Abbaufläche am Kernfuss (Ihr erinnert Euch: zur erfolgreichen Abtrennung einer Klinge muss der Kern eine Längswölbung und eine Querwölbung haben!). Beides wird durch Präparation eingestellt.

- "Kratzerkappe 2"

Analog zu Kratzerkappe 1 wurde eventuell auch durch die Zurichtung des Kernfusses entstandene Kante, hier als "Kratzerkappe 2" bezeichnet ohne weitere Zurichtung ebenfalls zum Kratzen verwendet. Darauf könnten die kurzen Ausbrüche in unmittelbarer Nähe der "Kratzer"kante hindeuten.

Fazit

Sicher ein Kratzer, und ein hochspannender dazu, mit einer ziemlich eindeutigen Kratzerkappe (Nr. 1) und einem möglichen weiteren Kratzerende ("Kratzerkappe 2"). Nicht weniger, aber auch nicht mehr!
Ein m.E. sehr schönes Beispiel für die "ad hoc Verwendung" lediglich gebrochener und unretuschierter, aber eben natürlich formgeeigneter Kanten.

Gerade mutmassliche "ad hoc Geräte" lehren uns, dass die damaligen Stein"schläger" und Handwerker viel flexibler bei der Lösung handwerklicher Probleme waren als sich das manch Heutige(r) vorstellen kann oder will!

Eines der besten Beispiele dafür sind - nicht nur auf den ersten Blick unretuschierte - Abschläge, die sich etwa zusammen mit dem Waldelefanten-Skelett von Lehringen bei Verden an der Aller/Niedersachsen gefunden haben. Erst eine Gebrauchsspurenanalyse durch einen französischen Spezialisten in den 1980er Jahren hat gezeigt, dass die Stücke zum Zerlegen der Jagdbeute dienten.

Ganz in diesem Sinne sind wahrscheinlich Tausende von Klingen und Abschlägen, die heute lediglich winzige Aussplitterungen an ihren Kanten erkennen lassen, zu vielfältigen Tätigkeiten seinerzeit eingesetzt worden, ganz so, wie es dem/der ehemaligen Handwerker(in) gerade "in den Kram passte". Die Hauptsache war nämlich, dass die zu erledigende Arbeit erfolgreich getan werden konnte. Und dazu musste man nicht zwingend immer "typologisch korrekte" Geräteformen einsetzen.

Ein mindestens so frappierendes Beispiel, wie das aus Lehringen wurde von HPs Ampf vor Jahren vom spätneolithischen Feuersteinbergwerk "Lousberg" in Aachen beschrieben und abgebildet. Dort wurde während der Grabungskampagne des Jahres 1980 ein sog. Schlagplatz im alten Haldengelände entdeckt und vollständig ausgegraben. Tatsächlich handelt es sich, wie die verschiedenen Fundgruppen erkennen lassen, nicht nur um eine Stelle, an der der unmittelbar vor Ort abgebaute Lousberg-Flint zu Beilklingen zugerichtet worden ist, sondern es ist eine regelrechte Werkstatt, in der z.B. auch Abbaugeräte aus Flint und zähem, ortsfremden Felsgestein mitsamt ihren hölzernen Schäften, aber auch Brechstangen und Hämmer aus Rothirschgeweih für die Flintbearbeitung angefertigt worden sind. Im Zentrum der Werkstatt lag ein dicker Kalkbrocken, der dem/den Handwerker(n) als Sitzstein gedient hat, und unmittelbar davor befand sich eine Feuerstelle!

Die Geweihstangen wurden in Sägetechnik zerlegt, wovon wunderschöne Trennfacetten an den Enden zahlreicher Geweihabschnitte zeugen. Womit aber hatte man gesägt?

In den insgesamt rd. 320 kg Feuersteinabfall (!) fand der Ausgräber später bei der mehrjährigen Bearbeitung mehrere schlichte handliche Abschläge, deren Längskanten unregelmässig bifaziell ausgebrochen sind. Eine anschschliessende Gebrauchsspurenanalyse durch einen US-amerikanischen Spezialisten ergab, dass dies die "Sägeblätter" waren, die mit blosser Hand geführt worden sind! Durch den Druck der unretuschierten (!) Längskanten und die freie Handhabung der Stück entstanden die Ausbrüche, die als natürliche "Sägezähne" erfolgreich ihren Dienst verrichteten. Ohne diese Untersuchung wäre man wahrscheinlich davon ausgegangen, dass die Ausbrüche durch kontinuierliches Laufen über/Trampeln auf dem sich allmählich akkumulierenden Flintabfall entstanden sind!  Somit handelt es sich bei diesen Artefakten um veritable, hochspezielle Werkzeuge, die verständlicherweise in keiner "Typologie" aufgeführt sind.

Aber Achtung!

Die vorstehenden Ausführungen bedeuten natürlich nicht, dass künftighin alle Flintartefakte mit mehr oder weniger starken Kantenbeschädigungen grundsätzlich als Werkzeuge zu bezeichnen wären! Mutmassen kann man Vieles. Der Belegt für die Vermutung ist aber nur durch eine aufwändige und deshalb teuere Spezialanalyse zu erbringen!

Herzliche Grüsse KIS 
"For an impossible situation - choose a crazy remedy!"

Silex

Das macht richtig Spaß , Khamsin, wenn  Du -mal wieder- in Schwung "gerätst".
Wissen macht ah.
Danke !
Vom
Edi

Die Hoffnung trübt das Urteil, aber sie stärkt die Ausdauer.