Der Nierendolch

Begonnen von stekemest, 30. September 2007, 21:09:08

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stekemest

Der Nierendolch


Als wohl einer der bekanntesten und gebräuchlichsten mittelalterlichen Dolche verkörpert der Nierendolch diese Waffengattung wie kein anderer. In seiner 4 Jahrhunderte umfassenden Geschichte ging er eine Vielzahl von Veränderungen durch, wandelte sich in Gestalt und Funktion, trat als breites Dolchmesser und als spitzer Panzerstecher auf, wurde von Rittern wie von Bauern getragen. Als anschauliches Phallus-Symbol erlangte der Nierendolch symbolische Bedeutung als Waffe des freien Mannes und diente vor allem zum Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins. Dennoch war er stets vor allem eines - eine Waffe, die nicht nur in Messerstechereien allzuoft eine böse Rolle spielte.


1. Definition und Aufbau

Als "Nierendolch" bezeichnet man eine Dolchform, die im Mittelalter entstand und deren namensgebendes Charakteristikum zwei parallele, seitliche Verdickungen am unteren Griffende sind, die eine angedeutete oder vollständige Kugelgestalt besitzen. Die Klingenformen variieren, wobei einschneidige Klingen überwiegen. Dennoch decken die Nierendolche fast alle gebräuchlichen Klingenformen des Spätmittelalters von breiten Rückenklingen bis zu schmalen Panzerstechern ab. Viele Stücke besitzen Rückenschneiden, zweischneidige Spitzen und Mittelgrate, und an späteren Exemplaren kommen auch aufwendigere Klingengestaltungen mit Ricasso vor. Obwohl manche Nierendolche des 15. Jahrhunderts seperate, metallene Nieren aufweisen (und manche britische Stücke gar Griffe aus Elfenbein), besteht der Griff mitsamt der Verdickungen in der Regel aus einem Stück und ist aus Holz geschnitzt.
Der Nierendolch wurde in einer Lederscheide getragen, die Beschläge (Ortbänder, Mundbleche und Zwischenstücke) aus Buntmetall haben konnte. Seltener finden sich auch metallene Scheiden.

Der Griff konnte auf mehrere Arten an der Klinge befestigt sein. So finden sich häufig kleine Endknöpfe, runde oder ovale Scheiben, Vernietknäufe oder Knaufkronen. Manchmal wurde der Griff auch ohne weitere Befestigung über die Angel gestülpt.
An den Klingenschultern wurden seit dem späten 14. Jahrhundert Buntmetall- (und seltener auch Eisen-)platten gebräuchlich, die den Griff zusätzlich fixierten und den Dolch an dieser Stelle verstärkten.


2. Die Ursprünge im 13. Jahrhundert

Die Ursprünge des Nierendolches sind nicht ganz klar zu ermitteln. Das früheste datierbare Stück stammt aus Konstanz und gehört ins späte 13. Jahrhundert, ein typologisch sehr ähnliches Stück aus Hameln wird in die 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert. Da Einzelfunde nur schwer datierbar sind, findet man Hinweise zur Verwendung des Nierendolches im 13. Jahrhundert vor allem in der Bildkunst. Allgemein gebräuchlich scheint er jedoch erst im 14. Jahrhundert zu werden.

2a. In der bildlichen Darstellung

In der Ikonographie findet man einen der frühesten Belege für den Gebrauch des Nierendolches in der St. Katharinen-Pfarrkirche zu Vel'ká Lomnica (Slowakei). Dort wird der Kampf des heiligen Ladislaus mit einem Kumanen dargestellt, wobei an Ladislaus' rechter Seite ein Nierendolch mit schlichtem Holzgriff zu sehen ist. Der Dolch steckt in einer Scheide mit Mundblech und Ortband. Die Darstellung datert in die Zeit zwischen 1300 und 1310.
Einen noch früheren Beleg meinte Schoknecht im "Kristina Psalter" gefunden zu haben. Diese Handschrift stammt ursprünglich aus Frankreich und wurde um 1230 angefertigt. Später kam sie nach Norwegen und wird heute in Kopenhagen (Dänemark) aufbewahrt. Auf Blatt 14 recto wird darin das Massaker in Betlehem dargestellt, ein beliebtes Motiv der mittelalterlichen Malerei, bei dem interessanterweise häufig Dolche als Mordwerkzeuge zu sehen sind. Der Dolch im Kristinapsalter hat eine lange, spitze Klinge und einen roten Griff, der sich zur Klinge hin seitwärts verbreitert und zum Knauf hin in einen geraden Schaft mündet. Hierin einen Nierendolch zu sehen ist aber gewagt, denn der Griff ist zu einem großen Teil von der Hand seines Trägers verdeckt, wodurch die eigentlich "Nieren" kaum zu sehen sind und man wohl eher von einer einfachen Verbreiterung des Griffes zur Klinge hin ausgehen kann, wie man ihn bei zahlreichen Dolchen findet. Der Kristina Psalter ist somit als Beleg für den Gebrauch von Nierendolchen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Frage zu stellen.

Möglicherweise handelt es sich auch bei den in der Heidelberger Liederhandschrift (um 1300) dargestellten Dolchen um Nierendolche, worauf die dargestellten Verdickungen am unteren Griffende hinweisen. Dieselben Verdickungen weisen die Manesseschen Dolche jedoch auch am oberen Griffende auf, was bei erhaltenen Nierendolchgriffen nicht nachgewiesen werden kann. Allerdings zeigt ein vollständig erhaltenes schweizerisches Dolchmesser aus Mülenen (Schweiz) eine ähnliche Knaufpartie. Anhand der unteren Griffpartie lassen sich die Manesse-Dolche durchaus als Nierendolche interpretieren, doch ist auch diese Zuordnung unter Vorbehalt zu sehen. Dass die Nierendolche bereits um 1300 in Süddeutschland verbreitet waren, beweist der Fund aus Konstanz, der jedoch im Gegensatz zu den "Manesse-Dolchen" keine voll ausgebildeten Nieren zeigt.

Schoknecht erwähnt außerdem eine norwegische Statue aus dem 13. Jahrhundert, die einen Nierendolch tragen soll. Eine Verbreitung von Nord nach Süd lässt sich anhand des geringen Fundmaterials jedoch nicht nachweisen. Eine Verbreiterung des Griffes zur Klinge hin kann man auch bei einigen Dolchmessern des süddeutschen und schweizerischen Raumes beobachten, sodass möglicherweise eine Verwandtschaft zwischen diesen Stücken und frühen Nierendolchen besteht.

2b. Frühe Funde

Als der früheste Fund eines Nierendolches gilt ein aus einer Kloake geborgener Holzgriff aus Konstanz, der starke Ähnlichkeit zu späteren Nierendolchgriffen aufweist. Im Gegensatz zu den späteren Formen weisen die charakteristischen "Nieren" jedoch eine "Hörnchenform" auf und sind durch schmale Wülste vom restlichen Griff abgesetzt. Die Klinge des Dolches konnte nicht geborgen werden.

In Hameln wurden im Jahre 1987 während der Ausschachtungsarbeiten für eine Tiefgarage und den Erweiterungsbau der Kreissparkasse zwei in Trockenmauerwerk errichtete Kloaken entdeckt, in denen viele mittelalterliche Funde zum Vorschein kamen. Neben zahlreichen organischen Fundstücken wie Textilien, Schuhresten oder Gefäßen und grautoniger Keramik konnte dabei auch ein komplett erhaltener Nierendolch mitsamt Scheide geborgen werden. Neben der herausragenden Erhaltung und der Komplettheit liegt die Bedeutung dieses Fundes vor allem in seiner Datierung, denn aufgrund der beiliegenden Keramikfunde konnte der Dolch in die Zeit um 1300 bzw. die 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert werden. Damit gehört er zu den frühesten sicher datierbaren Nierendolchfunden überhaupt.
Typologisch zeigt er eine große Ähnlichkeit zum Konstanzer Fundstück, so findet sich auch hier die "Hörnchenform" der Nieren.

Beim Bau des Rostock-Güstrower Kanals wurde 1897 ein Nierendolch mit komplettem Holzgriff gefunden. Die kurze, einschneidige Klinge ist am Ort gebrochen und geht in einen Holzgriff mit zwei halbkugeligen Nieren über, der sich nach oben hin verbreitert. Stufenförmig übereinandergelegte Metallplättchen bilden den Knauf. Der Dolch wurde zusammen mit einem Schwert mit pagodendachförmigem Knauf gefunden. Diese Schwerter kamen gegen 1250 zunehmend außer Gebrauch, lassen sich jedoch noch sicher im ganzen 13. Jahrhundert nachweisen. Den Dolch ebenfalls in diese Zeit zu datieren ist jedoch nicht mit Sicherheit möglich, denn ein geschlossener Fundzusammenhang ist nicht vorhanden. Das selbe gilt für ein typologisch völlig anderes Stück aus Schmarsow in der Nähe der Burg Osten, das ebenfalls zusammen mit einem Schwert vom Pagodendach-Typ gefunden wurde.


3. Die Tragweise

Wie sich ikonographisch nachweisen lässt, wurde der Nierendolch vor allem am Gürtel an der rechten Körperseite senkrecht oder schräg hängend befestigt. Seinem phallischen Charakter entsprechend war es anscheinend jedoch auch üblich, ihn direkt vor dem Bauch hängend zu tragen. Belege für diese Tragweise finden sich beispielsweise im Dom zu Güstrow (Altarbild um 1500) oder in der Nikolaikirche in Stralsund (Ende 14. Jahrhundert). Bei dem Gemälde aus Güstrow fällt dabei auf, dass der Dolch nicht am breiten Leibgurt, sondern an einem schmalen, lose um den Körper gebundenen Extragürtel befestigt ist.
Gelegentlich wurde der Dolch nicht selber am Gürtel befestigt, sondern in einer Tasche getragen, wie beispielweise auf dem Altarbild in der Kirche St. Jacobi zu Lübeck zu sehen ist.

Daneben finden sich auch einige außergewöhnliche Darstellungen der Tragweise, so z.B. eine Befestigung am Oberschenkel.


4. Die Träger und der Gebrauch

Der Nierendolch war die typische Waffe des Bürgertums und des Adels, wurde aber auch von fast allen anderen sozialen Schichten getragen. Hinweise zu den Trägern findet man vor allem in der Ikonographie, so wird bereits im frühen 14. Jahrhundert der Nierendolch an der adeligen Zivilkleidung dargestellt, gegen Mitte des 14. Jahrhunderts wird er auch als ritterliche Waffe im Kriegsgebrauch dargestellt. Bei den ritterlichen Stücken handelt es sich zumeist um kräftige, zweischneidige Stücke, wie auch einige Funde belegen. Im weiteren Entwicklungsverlauf wandelte sich der Nierendolch zum dünnen Panzerstecher, mit dem nach Schwachstellen in der Rüstung - beispielsweise den Sehschlitzen - gestochen wurde. Derartige Panzerstecher waren zweifellos eine waffentechnische Weiterentwicklung, die mit der Verstärkung des ritterlichen Panzers einherging. Gemäß ihrer Funktion findet sich häufig die Bezeichnung "misericordia" (lat. "Barmherzigkeit") oder "Gnadgott" für solche Dolche.

Die größte Masse der Nierendolche besitzt jedoch einschneidige Klingen und eine insgesamt eher schlichte Form. Zudem stammt ein Großteil der Funde aus Stadtgrabungen. Es handelte sich also vor allem um eine zivile Waffe, die der Stadtbürger bei sich trug und die im Notfall auch als Waffe eingesetzt werden konnte. Dabei erfüllte der Nierendolch - vor allem im Raum der Hanse, aber auch anderswo - oft die Funktion eines repräsentativen Standesabzeichens. Kaufleute und Bürger trugen das "lange mezzer" (= Dolchmesser) als Teil ihrer Kleidung, womit der Dolch auch modischen Strömungen unterworfen war. Dem Ausdruck des bürgerlichen Selbstbewusstseins entsprechend war der Nierendolch auch mit Phallus-Symbolik verbunden; darauf deutet nicht nur die Tatsache, dass der Dolch manchmal senkrecht vor dem Bauch hängend getragen wurde, sondern auch die authentische Terminologie: in Großbritannien heißt der Dolch noch heute "ballock dagger" (Hodendolch). Dennoch blieb es nicht nur beim Bloßen Zurschaustellen der Dolche: Zeitgenössische Berichte erzählen häufig von Messerstechereien in den Städten, und mancherorts wurde das Tragen von Waffen eingeschränkt. Messerstechereien, aber auch das bloße Ziehen der Waffen (oft als "messerstrecken" oder "messerzucken" bezeichnet) wurden mit schweren Strafen belegt. So erfahren wir beispielsweise aus den Würzburger Polizeisätzen von 1296/97: "swer ouch ein swert oder ein mezzer uober den andern zucket, der sal die stat rumen in achte tagen zwene manden uz ze sine" und aus dem Bayrischen Landrecht von 1346: "wer ain [...] mezzer zuckt [...] ist dem richter [...] schuldig [...] nach dem mezzer zucken vier und zwaintzig pfenning".

Einige bildliche Quellen belegen, dass auch Bauern Nierendolche trugen, zum Beispiel eine Wandmalerei der Elmelunder Kirche in Dänemark. Der Nierendolch kann somit - in seinen verschiedenen Ausführungen - als Waffe aller sozialen Schichten angesehen werden.


5. Verbreitungsgebiet der Nierendolche

Das Fundgebiet der Nierendolche erstreckt sich über große Teile Europas, so finden sie sich nicht nur im deutschsprachigen Gebiet, sondern auch in Polen, Slowenien, der Tschechei und anderen osteuropäischen Ländern. Große Verbreitung fand der Nierendolch auch in Westeuropa. Im französischen Raum war Burgund eines der wichtigsten Zentren der Produktion, in Großbritannien hielt sich der Nierendolch sogar länger als in allen anderen Ländern. Auch in Belgien und den Niederlanden war diese Dolchform populär.
Die Verbreitung erstreckte sich bis nach Nordeuropa, das gelegentlich auch als Ursprung dieser Dolchform angesehen wird.

Innerhalb Deutschlands lässt sich eine größere Verbreitung im Norden als im Süden feststellen, wobei der Nierendolch vor allem im Raum der Hanse beliebt gewesen zu sein scheint. Dennoch gibt es zahlreiche Exemplare aus dem gesamten deutschen Gebiet. Gegen eine Verbreitung von Nord nach Süd sprechen beispielsweise die beiden frühen Nierendolche aus Hameln und Konstanz (um 1300).


6. Die Weiterentwicklung der Nierendolche in Großbritannien: dudgeon dagger und dirk

In Großbritannien nahm die Entwicklung des Nierendolches einen besonderen Verlauf, denn dort war er in Variationen noch bis ins 18. Jahrhundert in Gebrauch und entwickelte sich langsam zum traditionellen Dirk weiter.

Nachdem der Nierendolch auch auf den britischen Inseln einen ähnlichen Entwicklungsverlauf durchgegangen war wie auf dem europäischen Festland, entwickelte sich im frühen 17. Jahrhundert eine Sonderform, deren Griffe in der Regel aus britischem Buchsbaum bestanden, das als "dudgeon" bezeichnet wurde. Demzufolge bürgerte sich die Bezeichnung dudgeon dagger ein.

Der Übergang vom Nierendolch, bzw. dudgeon dagger, zum Dirk verlief fließend. Die ersten Waffen, die man als Dirks bezeichnen kann, tauchen im 16. Jahrhundert auf. Sie unterscheiden sich von den gleichzeitigen Nierendolchen vor allem durch ihre längere und an der Wurzel breitere Klinge, die in der Regel nur einschneidig ist. Die frühen Dirks zeigen noch deutliche Ähnlichkeit zum Nierendolch. Sie besitzen einen zylinderförmigen Griff, der oben durch einen breiten und flachen Knauf und unten durch die typischen Rundungen abgeschlossen wird. Der Griff bestand bis auf den Knauf meist ganz aus Holz. Diese Frühform war bis ins 18. Jahrhundert in Gebrauch.

Der entscheidende Entwicklungsschritt von der nierendolchartigen Frühform zum traditionellen Dirk fand im 17. Jahrhundert statt. Die Nieren passten sich nunmehr dem Griff an und wiesen keine Kugelgestalt mehr auf. Zusätzlich wurden sie mit einer Metallplatte zwischen Klinge und Griff verstärkt, ähnlich wie bei den Nierendolchen des frühen 15. Jahrhunderts. Ein weiteres Markmal des voll ausgebildeten Dirks ist die Verzierung des Griffes, der oft in Ranken- oder Knotenform geschnitzt wurde, die sehr an frühmittelalterlich-nordische Muster erinnert.

Mit der Zeit löste sich der Dirk vollständig von seinen mittelalterlichen Wurzeln und etablierte sich als eigene Form. Die Griffe der späten Dirks des 18./19. Jahrhunderts zeigen fast gar keine "Nieren" mehr; die Verdickungen gehen stattdessen nahezu oder völlig in den Griff über.



Literatur

SCHOKNECHT, Ulrich / Mecklenburgische Nierendolche und andere mittelalterliche Funde, in: Bodendenkmalpflege in Mecklenburg 1979

SCHOKNECHT, Ulrich / Mecklenburgische Nierendolche und andere mittelalterliche Funde (Teil II), in: Bodendenkmalpflege in Mecklenburg 1982

MÜLLER, Heinrich ; KÖLLING, Hartmut / Europäische Hieb- und Stichwaffen aus der Sammlung des Museums für Deutsche Geschichte

SEITZ, Heribert / Blankwaffen I / Braunschweig 1965

KNORR, Heinz / Messer und Dolch. Eine Untersuchung zur mittelalterlichen Waffenkunde in gesellschaftskritischer Sicht, in: Veröffentlichungen des Museums für Ur- und Frühgeschichte Potsdam 6

SCHNEIDER, Hugo / Waffen im Schweizerischen Landesmuseum; Griffwaffen I

FORMAN, James / The Scottish Dirk



© stekemest 2006

stekemest

#1
Diesen Text habe ich schon vor längerer Zeit geschrieben. Nierendolche werden von Sondengängern selten gefunden, aber vielleicht interessiert es ja den einen oder anderen. :zwinker:

Bilder folgen später, wenn Urheberrechtsfragen geklärt sind.